nur ein Gedankenstrich, der den Schwung ihrer Braue mitgenommen hat

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2019-12-31 24:00:00]]

Wettbewerb im Dezember 2019

„nur ein Gedankenstrich, der den Schwung ihrer Braue mitgenommen hat“ heißt unser Thema im Dezember. Und dabei geht es um Herkunft und Heimat und um die Verbindungslinien zwischen den Generationen. Inspiration gibt es von Miedya Mahmod und ihrem Gedicht 
„Das Leben meiner Großmutter war trocken bis hart“ und den beiden Kunstwerken 
„Höhen und Tiefen im Freien Fall“ und „Arche“ von Kavata Mbiti, derzeit zu sehen im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal.

Miedya Mahmod

Das Leben meiner Großmutter war trocken bis hart, und so ertränkte sie 
Ihre Sorgen schon frühmorgens auf die islamische Art 
Im Wudū‘ und in Schwarztee mit 
Acht Löffelchen voll Zucker. 
Sie starb an Diabetes Typ 2.

Meine Mutter ist als Kind auf der Flucht vor den Arabern vom Pick-up gefallen. So viele Kinder, zu 
wenige Erwachsene, da fällt das nicht sofort auf. Im trockenen, pieksenden Gras, die Luft roch nach
verbrannter Erde, sah sie eine Schlange. Vor denen hat sie bis heute Angst. 
Aber über 10 Kinder, ihr müsst verstehen, das waren pro Erwachsenen mehr Kinder, als Augen da 
waren, da geht auch mal eins verloren.
Alles, was blieb, war die Narbe auf ihrer Stirn. 
Kein Blitz kein Kreuz kein Feuerball kein Fadenschein – nur ein Gedankenstrich, der den Schwung 
ihrer Braue mitgenommen hat und nach oben trug. Sie steht ihr gut, wie eine Falte der Sorge 
getragen, wie eine Schiene, die Frösche im Hals in den Kopf deportiert. 
Wenn ich frage, wie das damals so war, schweigt sie das Schweigen einer Mutter, die dazu nichts zu
sagen hat. 
Wenn ich Vater frage, was er damals dort tat, schweigt er das Schweigen eines Landes, das nie etwas zu sagen hatte.

Meine Mutter trinkt ihren Kaffee, 
Arabica-Bohnen, italienische Maschine, 
Frisch gemahlen, 
Mit neun Löffelchen voll Zucker. 
Sie ernährt sich gesund 
Und spaziert viel 
Für den Rücken. Sie hat bis heute Angst.

(aus: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es besser wird. Anthologie des 32. Treffens Junger Autoren 2017, 
Berliner Festspiele 2018) 

Miedya Mahmod knüpft die Lebensgeschichten ihrer Großmutter und Mutter an deren 
Gewohnheiten, Tee bzw. Kaffee zu trinken. Ganz konkrete Beschreibungen sind Teil eines komplexen Familiengeflechts aus Worten, die aufmerken lassen: Was ist Wudū‘? Was ist ein trockenes Leben? 
Was hat es mit deportierten Fröschen auf sich? Wie ist die Narbe entstanden und wieso der Vergleich mit einem Gedankenstrich? Was hat das eigene Leben mit dem von Mutter und Großmutter zu tun? In dem Gedicht verbinden sich Alltagsrituale wie die Anzahl der Löffel Zucker im Tee oder Kaffee mit der Familiengeschichte der lyrischen Erzählerin über Flucht, Verletzungen und der Vergangenheit. Ein „Damals“ auf das das fragende Ich zweierlei Schweigen erntet, „das Schweigen einer Mutter, die dazu nichts zu sagen hat“ und das Schweigen des Vaters, welches das 
„Schweigen eines Landes“ ist, „das nie etwas zu sagen hatte.“

Schickt uns im Dezember eure Gedichte zum Thema „nur ein Gedankenstrich, der den Schwung ihrer Braue mitgenommen hat“. Schreibt uns zum Jahresende von Familienritualen, Gedanken und Erinnerungen, die sich im Alltäglichen zeigen, die vielleicht Spuren am Körper hinterlassen. 
Welche Gewohnheiten verbinden die Generationen? Was liegt zwischen Großeltern, Eltern und Kindern? An welcher Stelle schweigen wir, wo fangen wir an davon zu erzählen?

Wenn ihr mehr zum Hintergrund von Miedya Mahmods Gedicht wissen möchtet, werft einen Blick in die folgenden Materialien!

Miedya Mahmod, Foto: Jan Brandes

 (*1996, Dortmund) hatte eine Jugend in Hagen, brach ein Studium in Essen ab und wohnt aktuell in Bochum. Seit 2016 steht sie auf Spoken Word- und Open Mic Bühnen des Landes, qualifizierte sich direkt im selben Jahr für das Finale der NRW-Meisterschaften im Poetry Slam, nahm 2017 am Treffen Junger Autor*innen im Berliner Festspielhaus teil. 2017 gründete sie außerdem mit Kolleg*innen die queerfeministische Lesebühne ,Schall und Raucher*innen‘ in Essen, die bis heute besteht.

Mittlerweile studiert sie, sehr langsam, Theater- und Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität, engagiert sich auf- und abseits der Bühnen feministisch und linkspolitisch, u.a. für Solidarität mit 
Rojawa und tritt für eine Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein.

Seit 2017 sind mehrere Anthologien inklusive ihrer Lyrik und Prosa erschienen.

Höhen und Tiefen im Freien Fall
Kavata Mbiti

2019
Holz, Wachs
70 x 100 x 215 cm

Kavata Mbiti, Höhen und Tiefen im Freien Fall
2019, Foto: Michael Richter
Kavata Mbiti, Arche
2019, Foto: Michael Richter

Arche

Kavata Mbiti

2019
Holz, lackiert
82 x 56 x 143 cm

Die Arbeit Arche scheint wie eine Orgel in ihrer Gänze und Höhen und Tiefen im Freien Fall wie eine Note, die aus diesem Instrument ertönt, bzw. wie ein Stück aus einer Partitur. Bei Höhen und Tiefen im Freien Fall ist das Holz bemalt und zudem mit Wachs bearbeitet. Die Wachschicht bricht die Oberfläche auf und führt dazu, dass die unterschiedlichen Farbschichten des Kunstwerks noch changierender ineinander übergehen und bietet eine Reflexionsfläche für auf die Skulptur scheinendes Licht. Die geometrischen Formen der Skulptur werden durch das Wachs weicher und verschwimmen im Auge des Betrachters. So kann vor dem inneren Auge des Rezipienten eine individuelle Wahrheit entstehen, die so formbar und leicht veränderbar ist wie warmes Wachs.

[…] In beiden Arbeiten wird der Blick des Betrachters in alle Richtungen geführt. Sowohl das Auf und Ab des Lebens wird dadurch symbolisiert als auch der ungewisse Ausgang desselben– denn, ob es nach dem Tod ein Weiterbestehen der Existenz gibt, ist ungewiss. Auch die biblische Arche führt ihre Insassen in eine ungewisse (jedoch als besser prognostizierte) Zukunft. Die notwendige Bedingung für eine bessere neue Welt ist ein Niedergang der alten. So scheint es als hätte die Bildhauerin hier utopischen Fantasien Ausdruck verliehen.

Dr. Maya Anna Rosalie Großmann über die Kunstwerke von Kavata Mbiti

geboren in Nyon, Schweiz. Studium der Bildenden Kunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und an der Universität der Künste Berlin. 2002 Ernennung zur Meisterschülerin von Tony Cragg. Seither Einzel- und Gruppenausstellungen sowie verschiedene Auszeichnungen. Lebt und arbeitet in Berlin.

https://www.kavatambiti.de/

Vermeintliche Gewissheiten von Form und deren Repräsentation werden in der Ausstellung Habitat
in Frage gestellt. Daniel Winkler stellt seine körperhaften Entgrenzungen einem dualistischen
Weltsystem entgegen und überführt sie in eine universelle Einheit. Johannes Weiß organisiert in
seinen streng geometrischen Werken Zusammengehörigkeit und Trennung neu und verweist subtil
auf prekäre Bedingungen in einer zeichenhaften, vernetzten Welt. Kavata Mbiti überführt vertikale Stringenz in emotional aufgeladene Unschärfen, deren Impulse einen sinnlichen, organischen
Ursprung offenbaren. Vereint vermitteln alle Werke ihren unbedingten Anspruch neuer, unabhängiger Vereinbarungen, die sich in ihrer Materialität und deren Wahrnehmung manifestieren. Skulptur als Habitat, als Ort des Rückzugs und Aufbruchs gleichermaßen.

Auf den Höhen Wuppertals, zwischen Elberfeld und Barmen, liegt der Skulpturenpark Waldfrieden.
Ein international wahrgenommenes Ausstellungszentrum für Skulpturen ist hier entstanden, das der britische Bildhauer Tony Cragg 2008 auf dem lange Zeit verwaisten Villengrundstück Waldfrieden einrichtete. Das gut 14 Hektar große Anwesen gehörte ursprünglich dem Wuppertaler Industriellen
Kurt Herberts, der sich hier zwischen 1947 und 1950 eine zweigeschossige Villa errichten ließ. Das Baudenkmal fügt sich harmonisch in Landschaft und Naturraum ein, ist aber aus konservatorischen Gründen nicht öffentlich zugänglich. Innerhalb des weitläufigen Geländes wird eine stetig wachsende Skulpturensammlung ausgestellt, die neben Plastiken von Tony Cragg auch Werke anderer namhafter Künstler der Gegenwart umfasst. Dank seiner Topographie ist das Gelände hervorragend geeignet, Skulpturen inmitten wechselnder landschaftlicher Verhältnisse zu präsentieren.

https://www.kavatambiti.de/

Schreibe, um zu träumen.