Unsere Gewinner*innen im Juni 2019

Wettbewerb im Juni 2019

„Werden Bewegungen so verschiebbar“ lautet es im Juni-Gedicht von Christiane Heidrich. 
Sie beginnt den Text mit „Mein Körper hält still.“ Dann werden Bewegungen in Einzelteile zerteilt, übereinandergelegt und reflektiert. Ihr habt in euren Texten die sprachlichen Erkundungen des Körpers und die Vermessungen der Bewegungen aufgenommen, weitergeführt und uns wundervolle Texte geschickt. Vielen Dank!

spielregeln

Ruta Dreyer
2002

deine bewegungen sind ein spielfeld: es gibt außenlinien, innenlinien, begrenzungen,die nicht
überschritten werden dürfen, null-punkte-zonen und eine hälfte, auf der man sich fast immer
sicher schätzt, die
hände: fahren stumpf in ferne ecken, außer kontrolle manchmal
beine: geradeaus und seitwärts, immer darauf bedacht nicht an wände zu stoßen
augen: offen, ängstlich, weit in die ferne und dann geschlossen
alles sind mitspieler, dein körper: das team
du hoffst auf einen sieg, deine bewegungen fahren mit: die außenlinien entlang, die
innenlinien, begrenzungen, die nicht überschritten werden dürfen, null-punkte-zonen und eine
hälfte, auf der man sich fast immer sicher schätzt. die rote karte erscheint, wenn du einen
fehler begehst, der druck auf dein team lässt dich nicht los, deine mitspieler hecheln:
sie warten auf den pfiff, der sie erlöst

Schwimmzüge

Selin Eslek
2003

Ich schleife meine Kanten, damit ich nicht anecke.
Manchmal glaube ich, die Welt wäre eine Kugel.
Ich schneide mir Kreise in die Hüfte und Kurven aus dem Bauch, damit die Furchen in meinem Kopf 
nicht auffallen.
Bin Steinmetz meines Alabasterkörpers
Wunderschön unerbittlich still
Erste Erinnerung vom träumenden Mond. Der seine Bahnen durch den Weltraum zieht.
Lauter Abenteurer leben dort. Betrachtet von den Lidern der Leute, die vergessen haben wie 
Kometen schmecken.
Manchmal kratzt du eine Kuhle in mein Bein
Ganz tief
Und legst deinen Finger hinein, dahin
Wo sich die Adern die Hände reichen. Sodass sie nicht frieren.
Dann höre ich mein Blut an deine Haut pochen und presse die Augen fest zusammen, damit sich die Wimpern verweben und meinen Kopf verschließen.
Deine Lungen sollen nicht schneien.
Die Welt fängt an, sich leise zu verschieben.
Irgendwo, da wohnt die Sonne.

staubig gedreht

Johanna Franke
2001

Rosigkalte Wangen halten meine Worte,
die ungelenk stumm in Starre ausarten.

Verzeih‘ mir,
ich bin nur die Spieluhr-Ballerina
auf dem obersten Regalbrett des Krankenhausbesucherzimmers.

Meine Drehungen beeinflussen nicht den Lauf der Zeit,
und oft falle ich innerlich bewusst aus dem Muster der Gesellschaft.
Doch wer kennt schon mein innerstes Ich?

ich
mal

ich
nicht
richtig

nicht
mal
richtig
ich

Schaut man mich an,
so kreise ich hektisch flink um meine Ruhelage.
Ich will adäquat funktionieren – ich habe hartes Training hinter mir.

Lieblos starren die Spinnen
im oberen Eck der gegenüberliegenden Wandheuchelung
zu mir herüber.
Und ich brenne und glänze
und beiße mir die Unterlippe rot.
Adrenalin formt meine Zweifel im Nachhinein,
denn wer bin ich?

Wer sind die anderen schon?

Einst ging ich mit einem Skydancer spazieren.
So unangenehm er zunächst schien,
belebte er mich mit seiner Freiheit.
Die Arme willkürlich flatternd im Wind,
mit zerfließendem Schritt
und abgelegter Struktur
flog er gen Himmel –
strebte aufwärts und verschwand im Sandkasten der Unendlichkeit.

Doch ich ließ ihn los und stehe nun
mit Zehenspitzen
auf dem Asphalt.

Ein halbbehaarter Mann erhebt sich vom Plastikstuhl,
greift nach meiner winzigen Existenz
und bringt mich zum Tanzen

und gedanklich liege ich nackt zusammengekrümelt in einem Sandförmchen
und schaue dem Plastik beim Sterben zu.

dass ich

Nora Hofmann
2000

dass ich bin und dass es dennoch keine flaechen gibt die mich spannen 
dass etwas mich traegt ich es trage und dass es mich auftraegt dass 
ich in ausgehoehltes tropfe und ich das verliere was jemand benannt 
was jemand ausgesprochen hat / dass ich austropfe dass ich mich nicht 
mehr finde die manschetten meines koerpers nicht mehr anfinde dass ich 
in keiner flaeche zu finden bin dass ich mich auftrage ich mich nicht 
mehr tragen kann und dass ich dennoch bin / dass ich nicht aufhoeren 
kann zu sagen dass ich bin dass ich nicht aufhoeren kann mich 
aufzusagen ; dass ich mich aufsagen muss dass ich nicht damit 
aufhoeren kann dass ich bin und dass ich sein muss und das zu sagen 
aufzusagen ;  dass ich mich aufsage damit ich nicht aufhoere zu sein
/ dass mein gesicht vertropft ist und dass die flaechen zu muendern 
gebueckt und zu lippen verknotet dass sie aufgehoert haben sich
aufzusagen dass sie nun unbenanntes sind ;  aber dass ich bin weil 
ich nicht aufhoere mich aufzusagen ich nicht aufhoeren kann zu sagen 
dass ich bin und dass ich mich benenne und mich ausspreche dass ich 
nicht aufhoere zu sein / dass ich bin und dass es dennoch keine 
flaechen gibt die mich spannen dass mich etwas traegt dass ich nicht 
aussprechen kann ; dass etwas mich traegt ich es in mir trage und dass 
es mich auftraegt / dass ich es nun benenne und ausspreche und
aufhoere es nicht zu sagen dass ich es mir aufsagen muss / dass in mir 
eine ruine ist ich eine ruine bin und dass ich zerfalle sie mich
innerlich zerfallen lässt dass ich schon im zerfallen bin ; dass mich 
eine ruine traegt dass ich eine ruine in mir trage dass mich diese 
ruine auftraegt ; dass ich mir aufsagen muss dass in mir eine ruine 
ist ich eine ruine bin und dass ich nicht aufhoeren darf mir aufsagen
muss nicht aufhoeren darf mir aufzusagen dass ich eine ruine bin ; sie 
mich zerfallen lässt dass ich zerfall in mir trage eine ruine in mir 
trage und ich schon im zerfallen bin / dass in mir eine ruine ist ich
eine ruine in mir trage und dass ich mich selbst auftrage

Am Ende steht ein Vorwurf

Ronja Lobner
2002

du hast dich hier vergessen 
als du da warst
und die tür blieb angelehnt
als du weggingst
und ich log dass es schon gar nicht mehr weh tat
als du wiederkamst 
und ich sprach inhaltlos
als du bliebst

den bauch hab ich
ohne zu zögern beinah wortlos
eingezogen
eingedrückt
ohne zu zögern
und beinahe wortlos

(& hier ist kein platz für zwei)

und verdreht
hab ich die wirbelsäule
hätte ich sie lieber zuhause gelassen
dann könnte ich mich leichter verbiegen

(& hier ist kein platz für zwei)

die fingerspitzen hab ich
abgestumpft
um dir nicht wehzutun
wenn ich dich berühre 
wenn

(& hier ist kein platz für zwei)

und ich habe mich
vergessen
als du bliebst
es gab nie eine tür
als du wiederkamst
und es tat schon fast gar nicht mehr weh
als du weggingst
und ich sagte kein wort
als du da warst;

natürlich nicht weil es nie darum ging dass du bleibst es ging um das vergessen und das weiss ich 
auch ich verstehe nicht wie du das nicht verstehst und ich mag mich nicht aber wenn ich neben dir stehe und dann auch reinzufällig neben mir dann mag ich mich für den bruchteil einer sekunde Magst Du Mich Auch aber eigentlich war dir das zu eXtasisCh und ich habe dich verLoren natürlich daS 
haben wir alle Dein rücken tut immer noch weh deine kaputten lippen sind immer noch 
aufgebrochen und deine wörter gestohlen du brauchst nicht mehr sprechen ich hab das auch nie 
getan das war das ProblEm einmal als sie mich fragten wo das Problem ist sagte ich es gab nie ein Problem und das war das problem und ich habe an dich geglaubt WEil ich dich liEbe Dabei bin ich gottlos und du sitzt einfach nur rum und du liebst mich auch für den bruchteil einer sekunde liebst du mich auch und ich warte aber erwarte nichts weil ich log als du da warst und schwieg als du gingst obwohl doch keder wusste das(s)

Könige der Nacht

Sascha Pütz
2002

Augenblinzeln

Saftiger Speichel
Fließt ohne Hast
Mündet in Mündern
Füllt diese mit
Lust

Wölbende Brüste
Ein Heben und Senken
Erfasst in
Tiefen Atemzügen
Den Duft
Von Schweiß
Und Alkohol

Das bunte Licht
Der grellen Scheinwerfer
Lässt Staubkörner
Tanzen
Wird reflektiert in
Schweißtropen
Auf weißen Stirnen
Die wie Murmeln
Über Gesichter gleiten
Und Krater in das
Blasse Make-up
Sprengen

Haar
Nass von Schweiß
Trocken von Gel
Bewegt sich störrisch
Verklebt zu einer
Homogenen Masse
Wie wir Menschen
Deren Körper im
Bass der Boxen
Vibrieren

Unsere Herzen
Fügen sich
Der rohen Gewalt
Sie schlagen
Im Einklang
Schießen
Kochendes Blut
Durch dicke Adern
Welches jede
Einzelne Zelle zum
Beben bringt

Sehnsüchtig
Kitzelt
Der Rhythmus
Im Blut
Lässt die Finger
Kribbeln
Wie des Dealers
Heroin

Es ist Zeit
Loszulassen

In Ekstase
Beginnen alle Muskeln
Unseres Leibes
Zu zucken

Blitze brechen
Die Ketten
Von Restriktionen
Und Scham

Ein stummes Flüstern
Spürt die Freiheit
Schmeckt die Freiheit
Seid die Freiheit

Tausende Pocken
Gänsehaut
Besetzen in einer
La-Ola-Welle
Jeden Nanometer
Unserer Haut
Wir leben

Und wie die Erde
Um die Sonne
Und die Welt
Nie ums uns
Drehen wir uns
Drehen uns
Drehen uns immer
Schneller und schneller
Weiter und weiter
Bis die Beine
Schwingen
Die Arme
Fliegen
Der Mund
Wässert
Die Schweißtropfen
Perlen
Die Lichter
Verschwimmen

Wir heben ab
Folgen den Sprossen
Der schwarzen Karte
Deren Zeichen
Wege weisen
(wohin weiß keiner)

Wir
Die Könige der Nacht
Lassen zurück
Was uns
Zurückhielt
Carpe Noctem
Wir lachen warm
In kalter Finsternis
Die wir
Im Tanze erobern
Und mit uns
Der Mond

Wir lesen von „spielregeln“ und den Mitspielern, „sie warten auf den pfiff, der sie erlöst“. Immer 
wieder geht es darum, sich zu befreien. In dem Gedicht „Schwimmzüge“ presst jemand die Augen
fest zusammen „damit sich die Wimpern verweben“ und den Kopf verschließen. Der Körper der 
„Spieluhr-Ballerina auf dem obersten Regalbrett des Krankenhausbesucherzimmers“ hat sich 
„staubig gedreht“. Der Körper und seine Bewegungen zeugen auch von Bedingungen und Vorwürfen: „dass ich in keiner flaeche zu finden bin“ – „und verdreht / hab ich die wirbelsäule / hätte ich sie 
lieber zuhause gelassen / dann könnte ich mich leichter verbiegen“. Doch auch von Eroberungen 
erzählen die Organe: „Saftiger Speichel / Fließt ohne Hast“ lesen wir so in dem Gedicht „Könige der Nacht“ – und schließen die Freude an den Texten mit dem Gefühl des Triumphs.

Ein Hoch auf die sechs Monatsgewinner*innen, lyrix gratuliert sehr herzlich Ruta Dreyer, Selin Eslek, Johanna Franke, Nora Hofmann, Ronja Lobner und Sascha Pütz!

Schreibe, um zu träumen.