Unsere Gewinner*innen im Juli 2019

Wettbewerb im Juli 2019

Im Juli seid ihr Diebstählen und Deformationen von Wörtern, Sprache und damit 
verknüpften Identitäten nachgegangen und habt die Spuren manchmal Buchstabe für Buchstabe aufgenommen und neu gezeichnet. Der Mythos der in einen Baum verwandelten Nymphe wurde Gegenwart, wie schon in dem Gedicht von Nora Zapf „dafne im federkleid“. 
Eine Zeile des Gedichts „stehlen mein s beim prechen“ gab die Inspiration für viele eurer wundervollen Texte. Vielen Dank!

dach netz haut

Ruta Dreyer
2002

am anfang sind es fliesen, der abguss, blätter und 
meine haut. ein spatz zwischen meinen 
schienbeinen gestrandet, der an meinen haaren 
nagt. es regnet ein wenig, ich lechze nach den
tropfen, sie zerrinnen. ein stich in meinem magen, 
ich hungere für den spatz mit. die tür bleibt 
geschlossen, durch das glas verschwimmt die uhrzeit, 
es spiegeln sich trübe wolken. der spatz räkelt sich, 
auf dem rücken wie ein käfer.    

danach sind es fliesen, der abguss, blätter, meine haut 
und kein spatz. die blätter verwelken zu pflanzenkadavern, 
leere hüllen. die tür wird zur front, mein atem prallt ab 
und ich schiele. die fliesen verschwinden, als der durst so 
groß wird, dass der abguss und ich eins sind.   
der gegenstand und das wort verlieren den zusammenhang, 
in meinem kopf verschwimmen bilder. 
eins verschwindet nach dem anderen. dann nur noch 
haut und meine zunge. die trockene zunge, die alles 
verschluckt.
am ende bin ich es und die sprachlosigkeit. 
mit dem bauch auf dem balkon, taub. 
das gesicht auf dem boden.    

ich betaste kalte federn, ich 
betaste meine kälte und ich versuche es zu lassen,
loszulassen.wort für wort, dach netz haut. 
erst wenn die fähigkeit verschwindet, zu sagen, 
was verschwindet, kann ich wirklich verschwinden.  

Streitgespräch

Julia König
2002

heute morgen führen wir ein simples streitgespräch und doch treibt 
es mich in die apokalypse so schnell verliere ich 
meinen zusammenhalt wenn sich der stacheldraht um meine kehle windet
meine stimmbänder unter 
dem druck bersten und alles 
zusammenfällt nur noch der wasserspiegel stetig steigt in meinen 
augen und ich mich tausendfach verfluche 
weil ich mich nie so klein fühle wie wenn ich weine. sich die sturmmaske 
verzieht und mein mund ein aufgewölbter schlitz wird meine nase 
trieft wenn ich mich verzerre ein monstrum werde und du dadurch nicht mehr sehen 
kannst, dass sinn in meinen so karikierten worten steckt. es ist elendig.
ELENDIG will ich schreien doch die silben verrutschen mir sie ver 
rutschen und nicht einmal ein ups schafft es über meine hektischen lippen 
mit der syntax einer wahnsinnigen versuche ich dir klar zu machen, was mich stört, doch
ich betrüge mich, siehst du nicht? wie ich mich betrüge? 
wenn die schluchzer meinen ganzen körper zum beben bringen, hören meine sätze auf, 
stabil zu sein aber sieh mich 
an. sieh in meine stu- sturzbachpupillen. du musst doch lesen können w- 
enn du nicht hören kannst sieh – sieh 
mich an. in den trümmern. bin ein gestrandeter tsunami und warte, 
dass du den sinn aus diesem wirrwarr birgst, du. deine augen trocken. 
ich bin eine persiflage meiner selbst vor lauter streit habe 
meine fassung verloren und da stehst du so unverschämt besonnen vor mir es schlägt m 
einer fass-ungslosigkeit den boden
aus
sieh in meine sturzbachpupillen. da steht geschrieben:  

heute morgen führen wir ein simples streitgespräch 
und darin löse ich mich auf

Schicht für Schicht

Bernadette Sarman
2001

Schicht für Schicht 
ge-schachtelt, ge-kachelt, ge-streift 
Füße schlüpfelten in Schuhe 
geh-en, geh-en bis die Zeit 
nagt, klagt, stöhnt 
es rieselt, pulvert, kracht 
Schicht für Schicht 
ge-schachtelt, ge-kachelt, ge-streift 
das „Geh“ kommt mit 
und aus dem „Geh mit mir“ wird 
„Geh weg von mir“ 
und die Zeit 
nagt, klagt, stöhnt 
bis aus dem „Geh“ 
ein „Ge“ wird 
Schicht für Schicht 
und irgendwann 
Ge- Schicht-e 
entsteht

zwischen oben und unten

Angelina Schülke
2003

platzregen deiner moral ergießt sich 
über mich in meinem mundwinkel 
gerinnen die worte zu schweigen 
deine hand zu nah als dass mein 
fleckiger körper vergessen könnte 
mit spitzen fingern zupfst du mir die 
sil  ben von den lip  pen zerdrückst sie  
zur gefügigkeit und reißt meinen 
widerspruch in fetzen 
hängt er mir vom leib ich atme
ein – aber jeder neue ver  such 
wird zum such  en nach halt und 
ver  geblich die luft in den lungen 
zu viel oder zu wenig um sätze zu – 
nur wer bin ich noch ohne  
meine stimme –  

Mundraub

Sven Spaltner
2000

Gerippte Morpheme
leben fliegende Fische 
unter meiner Zunge 
zirkulieren in meinem Blut  

Du schneidest mir 
in mein Wort 
mit einem Fischmesser 
keilVörmig Buchstaben daraus  

Du schneidest mir 
in meinen Mund 
quer, hebst die Zunge an 
entgrätest mich  

Ohne Skelett mein 
Satz ohne ohne 
Verb ohne Rück 
rad rat grat  

Klänge geschuppt 
zucken auf dem Asphalt 
wollen luft h h h holen, hauch 
ihnen das leben aus  

Meine Glossa 
Sprachflosse, durchstochen von deinem 
Haken, Spinner, und spinnt nicht mehr weiter 
du wirfst sie in dein Becken  

Du stiehlst meinen S 
inn beim S 
prechen, nimmst die Hälfte, das S 
ignifika te  

Sodass meine Sprache 
kaum noch Tier ist 
kaum noch Pflanze 
Pilz, modriger  

Aber frischer Fisch schtinkt nisch 
schprach isch rheinländisch    

 
(Schluck! 
Schreib es auf. 
Sie werden denken, es sei Aphasie. 
Ich weiß, es war Mundraub.)

Europa flaggenfarben eingraviert, track 21.Jhd.

Sarah Stemper
2001

sie lavierungsmisslungen 
uringelbe sternensegel 
zitternd vor 
die 
durchlöchert haben
mit oder gerade die 
lobbyismusblitzaugen 
umwerfend angezogen ein 
ruder von würde 
magnetkraft 
polarisierend außer kontrolle 
gesetzt was 
wenn das eur von opa 
wegfällt 
(kapitalismus oder zeit sein testament aufzusetzten?) 
fragen trotzdem 
es zeus 
ent?tet [:] abgrundwege 
auf allen mittelmeerseiten 
zentaurenrücken es 
rutsche 
obwohl weggestohlen 
(quis quisquilie sumus) 
dreifach demokratisch defendiert defendiert defendiert 
angeblich 
gesetzt was 
wenn dass eur von opa 
wegfällt 
(kapitalismus oder testament?) 
opa und demenz dementiert 
emissionen ausgestoßen 
(not our mission) 
verunsichtzubaren 
häresie profan
terminologisch 
paradox 
sie stressen es 
meine man 
ruhelos 
ich als flagge 
uringelbbepisst 
nach obsoleten obrigkeitsprinzipien 
odorös gehandelt
frage mich, wann 
zerbrochen und 
sanktionen durch 
welche denn wenn 
wir oder sie
wird Heimat 
was schon ist 
und wenn nicht 
ertrunken?

Ruta Dreyer, Julia König, Bernadette Sarman, Angelina Schülke, Sven Spaltner und Sarah Stemper überzeugten die Jury mit ihren Texten, die schon in den Titeln die Verflechtungen zwischen Sprache, Körper, Raum und Ich an die Oberfläche bringen: „dach netz haut“, „Streitgespräch“, „Schicht für Schicht“, „zwischen oben und unten“, „Mundraub“, „Europa flaggenfarben eingraviert, track 21. Jhd.“

Viel Freude beim Lesen!

Schreibe, um zu träumen.