stehlen mein s beim prechen

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2019-07-31 24:00:00]]

Wettbewerb im Juli 2019

Kennt ihr das Gefühl, wenn euch jemand sprachlos macht? Kommt es euch dann auch manchmal so vor, als würden euch nach und nach erst Buchstaben, dann ganze Worte geklaut, bis euch keine mehr übrigbleiben? „stehlen mein s beim prechen“ heißt unser Monatsthema im Juli. Spielt mit Sprache, klaut Buchstaben, verleiht Wörtern so eine neue Bedeutung – ganz so, wie es Nora Zapf in ihrem titelgebenden Gedicht „dafne im federkleid“ aus ihrem Band homogloben tut. Wir freuen uns auf eure Einsendungen!

dafne im federkleid

Nora Zapf

ich als baum kann nur
sagen wenn meine träge
rinde schütteln würde mühsam
komme harz zur welt als
bernsteingalle, wenn mich
jemand umarmt es versucht
im augenflirren auf höhe
einen strahl buchstaben
zu kotzen ein lichtes
geweih aus dem schuppen-
mund kein jasagen dringend

schwenke die zweige der
abwesenheit wie ein
federkleid blau grün, stachel
spikes was wackelt sind die Zikaden
ihr rezitativ in elektro saugen
sie mir genüßlich am hals, stehlen
mein s beim prechen schluckt
wenn astarme hebe
zu dirigieren den hang
zu einsamkeiten eins
kann ich sagen, ein
anderes verblasst.

 

(aus: homogloben, gutleut verlag 2018)

Die Sprache in Nora Zapfs Gedicht „dafne im federkleid“ hilft uns beim ersten Lesen nicht unbedingt bei der Orientierung, im Gegenteil: Sie verwirrt uns. Wo fangen die Sätze an, wo hören sie auf? Welche Verben passen wohin? Wer spricht? Wir stolpern. Und genau dieses Stolpern an der Sprache bis hin zur Sprachlosigkeit wird auch thematisch aufgegriffen: Dem lyrischen Ich wird das „S“ beim Sprechen gestohlen. Der Text greift den Mythos von Daphne auf, einer Bergnymphe der griechischen Mythologie, die sich in einen Baum verwandelt, um der Liebe des Gottes Apollon zu entfliehen. „ich als baum kann nur / sagen“ leitet sie das Gedicht ein, in dem sie im Zuge ihrer Verwandlung mehr und mehr ihre Sprache verliert und ihrer Kommunikationsmöglichkeiten nach und nach beraubt wird: „eins / kann ich sagen, ein / anderes verblasst.“ Zurück bleibt ein Gefühl der Ohnmacht.

Schickt uns im Juli eure Texte zum Thema „stehlen mein s beim prechen“! Schreibt uns von Verwandlungen, die zur Sprachlosigkeit führen, von geklauten oder „ausgekotzten“ Buchstaben, von verblassenden Worten. Spielt mit Sprache, entnehmt ihr Buchstaben und setzt sie neu zusammen. Wir sind gespannt, was ihr entstehen lasst!

Nora Zapf, Foto: Annalena Roters

Nora Zapf
geb. 1985 in Paderborn, lebt und arbeitet in München und Innsbruck. Übersetzungen aus dem Portugiesischen und Spanischen (zuletzt Mario Santiago Papasquiaro: Ratschläge von 1 Marx-Schüler an 1 Heidegger-Fanatiker, turia + kant 2018 und Gedichte in der Grand Tour, Hg. von Federico Italiano und Jan Wagner, Hanser 2019). Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt im Jahrbuch der Lyrik, Schöffling 2018. Literaturvermittlerin, Organisatorin der Reihe für junge Lyrik und Kunst meine drei lyrischen ichs und der Biennale Großer Tag der Jungen Münchner Literatur. Literaturstipendium der Stadt München 2017.
Einzelpublikationen: rost und kaffeesatz. Gedichte, parasitenpresse 2018. homogloben, gutleut 2018.

lyrix zu Gast im Museum

Zu unserem aktuellen Monatsthema werden Nora Zapf und der Lyriker Daniel Bayerstorfer im Juli zwei Schreibwerkstätten im Gellert-Museum Hainichen für Schüler*innen aus der Region ausrichten. Inspiriert von dem rund um Sprache – und in diesem Falle Sprachlosigkeit – kreisenden Monatsthema hat das Museum eine Bleistiftzeichnung ausgewählt, deren Bezugstext eine Fabelüberlieferung ist.

Ein Kopf, der leer ist, wundert sich ein Fuchs: prächtig, jedoch kein Gehirn. Kommt vor. Doch eine Schauspielermaske, hinter der man sich schützen, eine andere Identität annehmen kann, die sich mit Leben erfüllen lässt, die Stimme verstärkt, bietet viele Spielmöglichkeiten. Oder ist es eine Totenmaske, ein Stück Erinnerung? Die Bleistiftzeichnung, bei der die Augen unentschlossen in die dezent mit Tusche, Farbe und Goldpapier verzierte Maske blicken, liefert den Bezugstext mit, eine Fabelüberlieferung, handschriftlich ins Bild gesetzt.

Ob es einen freigelassenen Sklaven namens Aesop um 600 v. Chr. gab oder es sich bei den erst viel später schriftlich nachweisbaren »Aesopischen Fabeln« um Überlieferungen tradioneller Texte handelt, sei dahingestellt. Seit Jahrhunderten wird darauf Bezug genommen, doch diese Fabel selten illustriert.

Hans Heß (1951–2019), vor allem als Mail Art Künstler international fest etabliert, lebte in Schwarzenberg/Erzgebirge und hat für das Gellert-Museum Hainichen weitere Bilder zu wenig bekannten Fabeln geschaffen, gemeinsame Projekte und Ausstellungen mitinitiiert.

Die Kunstsammlung zur Fabel gehört zu den Herzstücken des Hauses, denn der Namensgeber, der in Hainichen geborene Erzieher und Dichter Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), beschäftigte sich intensiv mit diesem Genre und dessen Entwicklung seit der Antike. Seine enorme, auch internationale Bekanntheit vor allem im 18. Jahrhundert, sein Einfluss auf die deutsche Sprachentwicklung in Bezug zur Kulturgeschichte vermittelt seit 1985 das Museum in Mittelsachsen.

gellert-museum.de

Hans Heß (1951-2019), Der leere Kopf (Aesop), Bleistift, Tusche, Staniolpapier, 1985, 630 x 593 © Reproduktion: GMHC/Laszlo Farkas, 2012

Gellert-Museum Hainichen im Parkschlösschen, © GMHC Hainichen/Daniel Lorenz

Schreibe, um zu träumen.