Unsere Gewinner*innen im September 2019

Wettbewerb im September 2019

„Braucht die Welt pinkfarbene Schattierungen?“, fragte lyrix im September. Safiye Can beantwortete diese Frage mit „Ja“ in ihrem Gedicht „Masterplan“. Wie aber genau neue Entwürfe der Welt aussehen sollten, aus welchen Farben sie bestehen und was keinen Bestand mehr haben darf, dazu gab es zahlreiche, ganz unterschiedliche Texte. Da wird zum Beispiel Offenheit ersehnt, sich „einen Kosmos vorstellen in dem Farben nichts als farbig alles bedeuten“, den Farben scheint man nicht immer trauen zu können – „Täuschende Farben, fast so wie die echte Welt da draußen“ – den eigenen Entwürfen ebenso wenig: „meine zu hell schattierte weltencollage“. „Der Griff nach den Träumen“ kann zum „Würgegriff“ geraten, die Wahrnehmung wird auf die Probe gestellt:
„verschmelzen dunkelheit und licht zu trübem Dunst“, „da mit du nicht siehst, dass du siehst“.

Pinker Globus

Jule Grassmé
2001

Du berührst mich, 
Kurz, sachte angetippt. 
Dahinten auf der Schulter. 
Es sticht. 
Ein Brennen geht durch meinen Körper, 
Blaue Flammen züngeln sich durch meine Adern. 
Ein Tsunami kocht auf meiner Netzhaut, 
Das Salzwasser beschwört von blauer Hitze. 
Ich fühle nichts und Schmerz, 
Seh nur blau, 
Ich droh’ zu überschwemmen, 
Zu zerfließen, 
Aber ich weiß, du hasst es, wenn ich wein’, 
Wenn Flüsse meine Haut zerreißen. 
Also versiegle ich das Tor zum Meer, 
Schließe meine Augen vor meinem Körper, 
Vor den Grün-Gelb-Braun-Blauen Flecken, 
Die meine Haut verzieren. 
Täuschende Farben, fast so wie die echte Welt da draußen, 
Denn das bin ich: 
„ALLES für dich“, 
„Deine ganze WELT“  

Ja, ich fühl mich wie ein Globus. 
Starr, unbeweglich, gefangen, ich komme nicht voran. 
Jede Bewegung endet da, wo ich schon war. 
Ich hatte so ein Teil, als ich noch ein kleines Mädchen war, 
In Pink mit Glitzerschrift. 
Mit 20 war mein erstes Auto hellrosa. 
Jetzt ist alles blau.  

Manchmal, immer, wenn ich im Geheimen auf den kalten blauen Fließen wein’, 
Tauch ich in die Vergangenheit wie in einen Topf Farbe ein. 
Wünsch’ mir die pinkfarbenen Schattierungen zurück – 
Nicht den Globus, nicht das Auto, sondern: 
Die rosarote Brille, 
Durch die ich dich zum ersten Mal 
Und die Monate danach noch sah. 
Das Feuer in orangerot, das in mir loderte, 
Mich aber nie verbrannte. 
Im Spiegel waren meine Wangen rosa. 
Ich hab’ geglüht 
Und mein rotes Herz rotes Blut pumpen gehört, gespürt. 
Ich vermiss’ die rosaroten Rosen, 
Auch wenn die Dornen meine Haut zerfleischten, 
War mein Blut wenigstens rot. 
Pink soll wieder meine Lippen schmücken, 
Aber meine Schminke liegt ganz unten in der Schublade, 
Die mit dem Zahlenschloss daran.  

Jetzt würde ich so gern’ rot sehen und wütend sein, 
auf das, was du mit mir machst, 
Und rot sehen über, 
Was ich dich mit mir machen lasse.    

Aber ich seh’ blau.

Herz?

Katinka Kultscher
1999

Quietscht der fleischenfarbe 
Gummiboden Schlabberbäuche wienern 
schlürfen Himbeerbrause Ahoi! Lachsstrohhalme 
blubber Rollmops 
Drachenfrucht Pink Lady Pink Tanke 
Pinke sparen sparen Tante 
SPAR Express zur Theke 
Liter Mettshake oder Wurst aufs Maul du 
Hackfresse Axel Spritze 
Blutrückstände kotzgeschmieren Lippenstifte: 
lieb dich 
jetz nich mehr da lacht die 
Engelshautkoralle rosa 
rote Plastikbrille schrott p!nke Plüschkadaver 
Zuckerwatteneinhornshampooflasche 
Poolflamingo-Kids verspucken 
Wrigley’s Bubble Platz auf 
Rosa Luxemburg Gum (extra) 
Schweinebande  

5 kalorientütensuppe (healthy, abnehmen 50kg in vier Tagen, slim, bodyfit, low carb)

Ronja Lobner
2002

Aufguss // die 5 kalorientütensuppe // um konform zu gehen // dann isst du nur die hälfte // damit du nicht aneckst // an der Tischkante // morgens ziehst du dir dann 5 kalorien an // jetzt bist du wieder weiblich

 

und die CREME // eitertriefende Hautfetzen // und die fettigen Pickel auf der Stirn // ha(s)t du // die Creme(?) // ätz dein gesicht clean // jetzt bist du wieder weiblich

 

und das SHAMPOO // fettige Haarsträhnen // sind nicht lang genug // VOLUMENSHAMPOO // und  HAARMASKE // und CONDITIONER // und SPÜLUNG // und HITZESCHUTZ // und HAARÖL //und HONIG // musst du einmassieren // jetzt bist du wieder weiblich

 

Und das MAKE-UP // deine androgynität // sieht besser aus wenn // Man(n) sie nicht sieht // und an der Stelle wo sich dein Shirt wölben sollte // sind keine Brüste // nur ein Rippengestell // fülle die hohlräume mit konformität // und dann bist du wieder weiblich

 

Und der EYELINER // damit du nicht siehst // dass du siehst // noch sehen kannst // wie lange noch?

 

Du bist ein slim-fit-babe // ästhetik einer generation // die hasst die welt // seit Instagram sogar sich selbst //

 

Der Griff nach Träumen wird // zum Würgegriff // Griff in den Hals // Fingerkuppen in der Speiseröhre // Kotze // damit du morgen hohlraum freihast // für mehr tütensuppe

zwischentöne

Angelina Schülke
2003

draußen ist es 
weder nacht noch tag 
in den straßen 
verschmelzen dunkelheit und
licht zu trübem dunst 
dein kopf lehnt 
an der scheibe 
ausdruckslos starrst du 
hinunter auf 
neon geschrei 
reklame konsum 
rasenden puls 
überall 
und bemerkst mich gar nicht  

ich strecke die hand aus 
suche nach den 
leisen klängen 
die immer zwischen uns 
schwebten 
suche nach nähe  

in der küche 
tropft der wasserhahn 
in die leere 
gluckert die kaffeemaschine 
ausatmen –  

du schaust nicht einmal auf 
lässt dich stattdessen berieseln 
zudröhnen von dem 
hektischen blinzeln 
und der permanenten lautstärke 
der welt

elektronen zu falten ohne engelabsturz

Sarah Stemper
2001

mit zu vierviertel
zerschnittenen strohalmen
versuch ich den letzten tropfen
randflüssigkeit eingerahmter elektronen
einzuschlürfen, abgewürgt.
brauch‘ sie für meinen mit
doktor betitelten masterplan,
spannungsgeladen muss heutzutage schließlich alles sein.

 

mit einheiten
abseits
von ampére klebe ich
eine zu hell schattierte weltencollage zusammen
und meine, die ständig gleichbleibend
mobilisierte hetze der welt
in einem stillleben festhalten zu können,
lösungsmittelschnüffelnd.

 

nach dem verlassen einiger
stresseinzementierter elektrolyten
in meinem gehirn
etwas entspannung.
stelle von luthers reformationsthesen
drei entgegen der kapitalismusreligion
interpretiert neu auf.

 

erstens also: polarisierende politiker
brauchen ein magnetfeld in der mitte,
um sich beidseitig zu ergänzen.
zweitens also: elektronen aus steckdosen
für unsere smartphones und co. bringen
unsere körperladung durcheinander.
drittens also: anstelle nur lob an
die elite zu verteilen, man gebe
empowerment-aufladekabel
an die, die sie wirklich brauchen.

 

ungeplant kommt dann die droge:
wie sich das licht faltet.
elektronenfarben und so filterkonform.
halluziniere gerne über den
engel, und er kommt auf mich zu.
mit verhornten fingerkuppen
grabe ich mich mehr heftig als leicht
in seine zerrupften federn am flügel ein.

 

lasse epilepsiekonsequenzige neonfarben
dieser ignoranten welt
ihn romantisch befallen
ich falte ihn kaputt:
denn ein engel mit papageienflügeln
kann nur in irdischen flugbahnen schweben.
der spannungsübertragungsrausch hat auch mich befallen.

 

(aber nur halbherzig.) denn:
der mondschein kleckste uns
ketzerisch-klatschend
tief eingebrannte augenringe
unter unser sichtfeld,
nun zu einer ungewissen
prozentzahl verdeckt.
wir nähern uns also
hochspringend-hochgeklappt
der gefühlserkalteten
amplitude,
und realisieren verzittert:

 

Ist es besser, heutzutage ein Nachtkind zu sein?

Asymmetrie der Gedanken

Kristina Vasilevskaja
2001

tapezier mein Zimmer mit Schweinehäuten
seh das ferkelrosa tiefer blicken
rosaorange farbenes Abendlicht lässt die häute lebendiger erscheinen
Solch ein Ton schicke sich nicht – moralisch
Grenzmauern in Gedanken weiter leben lassen
Fange an die Haut abzukratzen 
Fingernägel über fettige borstenhaut
Ich brauche rosa nicht
Um zu wissen wer ich bin
Reicht blau völlig aus
Lila geht auch

Wann ich das letzt mal rosa trug- ich erinnere mich nicht
Rosanes Spaghettitop

Es ist wie 
kämpfen wenn es Sinn macht 
rosa so sinnbildhaft für Frau gemacht
blau vertrage ich genauso gut 
nur intolerant auf geteilte Strukturen,
blaue Schatten hinterlassen auf ausgekippter Tinte 
Phenolphtalein trinken um lila zu werden 
einen Kosmos vorstellen 
in dem Farben nichts als farbig 
alles bedeuten, einfach farbig sind
frau Bedeutungen verschieben, 
neuformen finden, neurosa entdecken 

leben in eigenen Universen verändern Realitäten 
oder 
machen mich blind, für das was tatsächlich ist 
eine eigene Wahrheit 
Asymmetrie der Gedanken 
eine Matrix aus Farben

Immer wieder habt ihr in euren Texten Farben und Welten neugeschöpft, von „ferkelrosa“ 
bis hin zu „epilepsiekonsequenziges neonfarben“: lyrix bedankt sich sehr herzlich für eure Textwelten voller Schattierungen und gratuliert den Monatsgewinner*innen: Jule Grassmé, Katinka Kultscher, Ronja Lobner, Angelina Schülke, Sarah Stemper und Kristina Vasilevskaja!

Schreibe, um zu träumen.