Unsere Gewinner*innen im Januar 2020

Wettbewerb im Januar 2020

„flee, you fools“ – das war das Monatsthema zum Jahresbeginn, inspiriert von dem Gedicht „getunnelt“ der Lyrikerin Alisha Stöcklin und dem Objekt „Skin“ des Bildhauers Camille Blatrix. In euren zahlreichen Einsendungen dazu ist die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit ein bestimmendes Motiv: Ihr schreibt über das Verhältnis von außen und innen, von Körper und Ich, von Berührung und Versehrtheit, von Nähe und vom Raum zwischen Körpern, von Konturen, Formen und Leere und von so vielem mehr.

INPUT

Nina-Sophie Raach
2001

Kreiselnd rutscht der Satz, 
durch die Wucht , die ihn von der Zunge stieß, beschwingt 
die feinen Windungen hinab. 
Bis er, für sein Gewicht verräterisch zu sacht, in seinem Ziel versinkt. 
Die sonst so matten Härchen stehen nun und schwanken, 
irritiert wie Tannen, wenn der Wind sich dreht, 
hilflos in der Druckwelle eindringender Gedanken. 
Die Wörter haben Schürfwunden ins Trommelfell gewebt.

Aalglattes Innenohrwesen von Bremsspuren zerfurcht. 
Nicht wieder zu erkennen sind die warmweichen Runden. 
In geschwungender Ordnung brach Chaos aus und durch. 
Gewichen sind Bogengänge canyongroßen Wunden.

Gesplittertes Gewebe verläuft restlos in seltsamer Substanz. 
Die Vibration sog neue Körper aus den Wänden, 
versperren nun die altbekannten Wege der Instanz, 
wuchern und wachsen und verschließen jede Blende.

Die Membranen schwingen nun auf unbekannte Weise, 
die Wörter sprachen und der alte Takt ward stumm. 
Polarisierend trafen sie die stillgelegten Gleise, 
zogen ihre Gräben selbst quer durch das Retikulum.

Weil Populismus nistet, 
sich die runde, eingespielte Welt zu eigen macht, 
das Fundament mit feinen, tödlich-spitzen Sätzen überlistet, 
lass bedenklich glatte Zungen nicht unbewacht.

wissen wollen wer man ist und kläglich daran scheitern

Ronja Lobner
2002

dieser körper ist kriegsgebiet; der in mitten ertrinkt. 
der 
stirbt in nervenzellen, beißt in den sauren augapfel usw.

blaue flecken bilden sich dann wenn man mit pulsschlägen 
aufeinander eindrescht, 
manchmal verstecken es die kleinen 
körper hinter schamhaaren. 
jetzt: wo er sein schlüsselbein verloren hat, lässt sich auch die blutzelle nicht öffnen. 
Was auch immer ein körper ist, 
das ist es nicht.

einmal hat er blei geschluckt 
um sich selbst gewicht zu geben. 
wollen wir immer noch augenlider singen? 
obwohl sich in der netzhaut längst verfangen hat 
die faser eines nie geführten gesprächs.

dieser körper ist ab heute autonome zone. 
3cm größer ist er seit gestern 
also eindeutig mehr mensch, i guess 
auf den handinnenflächen hängen noch reste 
der revolution was auch immer ein mensch ist, 
das ist es nicht.

undurchdringlich 
wie eine trennlinie liegt unkonventionell zwischen muttermal und vaterland 
rojava selbst 
lichtbögen rotieren, untergründe werden sichtbar. 
all die ketten könnten atavistisch werden 
aber: fahndungsbefehl, nervverzielung usw.

also ist es wahr. 
wir brauchen mindestens 
   achtzehn jahre, um über fremdkörper zu siegen 
und 84 reichen nicht um herauszufinden wer wir sind

wärst du so lieb & würdest sein gesicht abziehen 
weil er ohnehin zerfällt 
hautschuppe, haarsträhne. er verliert sich manchmal im gedankenfluss und wäscht sich ausversehen scham mit ab und hornhaut und sich vllt. auch  

        behauptet aber er wäre immer noch der gleiche (tz tz tz) 

Gestern: war er er 

Heute: ist er er 


                                                                                                                           Morgen: Wird er er sein 


das verstehe ich nicht. 
                                                                                                                             was auch immer er ist 
                                                                                                                                  Ich bin es nicht.

kanülen in deinen träumen oder preach, pretenders

Sarah Stemper
2001

vom regen durchtriefter handschuh 
am boden 
halt ihn hoch 
in meinen ausgebrannten mund 
tropfend stoff wie öl 
daher:kroch 
schnee aus meinem rachen 
geschmolzen bei flackerndem krankenhausflurlicht
kopf:schmerzen 
gerade vorstellungen von diskokugeln 
warum 
maniküre mit abgeknabberten fingernägeln

die mienen der menschen 
zu eskalationrotationsgesichtern gespannt 
von skalpellen 
halt ich nicht viel 
topografisch gesehen ist mein körper 
schischicksalseinsymmetriert bis verwölbt 
weg:verschleiernd ein geruch 
unter meiner haut 
nach dem fieber 
nach deinem pur geehrlichtem fieber 
von krankenakte verfleischtlichte tierhaut 
hält dis:sedimente dreier 
plastik-plastik—plastik—Blumen
inne(n) 
bambi im rollstuhl mozart mit herzschrittmacher 
eingetaktet der versuch (?) 
entkartete gedankenstriche wegzuradieren 
die winkel eines landstriches zu bestimmen 
gestaltet sich genauso schwierig 
wie im weißen bunt zu sehen

 
ein diagnosebogen als hamsterspäre dein leben 
droht verzäunt dein krankenbett 
zusammenzubrechen 
sei nur ein zeichen a:realter 
sozialbedürfnisse 
ebenen ver:ebben mit deiner selbst 
bei jeder op mehr 
bei jedem tag mehr antibiotika als vagabunden regionaler verletzungen 
ich habe dir vetraut 
aber gesundheit ist ein a-terrain

preach, pretenders

                 weißt du, dass, wenn ich creme in meinem gesicht verteile, 
                                      ich von medikamenten so benommen bin, 
                dass sie mich zerteilen und die creme mit dem fliegenschiss 
                                                den spiegel dann dekoriert?

Von Spänen

Selin Eslek
2003

Du wurdest in einer Nussschale geboren, weißt du noch? Hohe Wölbungen von Schluchten verschluckt noch warm und überzogen von Weichheit und Gold, erinnerst du dich an die Kerben, in die deine Kuppen passten, an den Widerstand darin? Da waren Schichten und Wellen, glatt vom Rutschen darauf und immer ein wenig dämmrig, ein wenig wie. Wenn man die Füße über die Ränder gestreckt ins Außen sehen ließ, fing nach den roten Abdrücken in den Kniekehlen die Freiheit an. Wenn man in einer Nussschale wohnt, kommt der Himmel einem manchmal lächerlich vor.

Kennst du noch Grube und Kontur und die Beschaffenheit der Kurve am Kopfende, Fasersplittrig und schillernd wenn Licht aufkam und es hat ja immer irgendwie geleuchtet. Nicht grell, sondern sanftmütig, ein- und ausatmend, alle Knochen durchdringend behäbiges schweres Licht, verstehst du? Wir wussten auch nie, wo es herkam, es war einfach da um zu leuchten. Wir haben damals viel gelegen, in diesem Licht, weißt du noch? Wir haben einfach in unserer Nussschale gelegen und durch das Licht geschaut. Und manchmal waren wir rutschen.

brief an die eltern

Lena Riemer
2002

weil vielleicht erklärungsbedarf herrscht:

ich zog mir die lungenflügel aus dem körper und legte sie mir auf den rücken um endlich fortzufliegen. sie sind schon schwarz gepunktet von der seuche der stadt CO und nur 2 mal an der zigarette gezogen (ich schwöre es mama ich schwöre) um ihre asche dann in der becherurne zu beerdigen.

falls ihr ein auge auf meine lyrik ausgeworfen habt dann geht es mir gut in der großen asphaltstadt und ihr könnt eure netzhäute gerne einholen kein köder kann mich in den bus nach hause setzen.

mein atem flattert hier über die häuserfassaden die alle gleich sind und doch ihre unterschiede beweisen wollen wie meine geschwister. es gibt hunderttausendundeine mehr straßen als in der heimat und auch wenn vater mahnte im licht zu bleiben so jagt doch die nacht durch diese gassen und in jede zelle meines körpers. nein mutter ich rede bestimmt nicht mit fremden ich lade sie wortlos in meine wohnung ein bis sie freunde sind. ja ich weiß dass es nur liebe ist bitte versteht ich muss noch raum bauen zwischen das tote land und sein lebendiges kind.

wohin auch immer diese nikotinbenetzten straßen führen.

Wirren deiner Strähnen

Alva Kozempel
2004

In den Wirren deiner Strähnen, finden meine Finger Halt, ertrinken in den glänzenden Wellen, teilen die Glut die darin weilt. Und meine Hände tanzen leise weiter ungewohnte Kreise um die Schläfe deiner Haut.

Um der Spannung zu entweichen, sacht dir hinters Ohr zu streichen und wie das Wirrenmeer geteilt, in deinem Nacken dann verweilt, sucht sich jeder Finger eine Strähne gleicher Teile und beginnt sie zu verknüpfen, dass die Wirren artig liegen, dass die Ströme sich verbiegen und die Flüsse die sie bilden fließen dann zu den Gefilden meiner Handgelenke hin.

In den Wirren deiner Strähnen können sie sich ganz verlieren, können ihre Last vergessen, weil die Locken schwerer wiegen und deine Worte als wir schwiegen blieben wie Wind und verhindern mein Flechten, beginnen die Ordnung anzufechten, bis in den Wellen untergeht, was immernoch ans Halten strebt. Nur die Leere meiner Hände lebt.

In die Wirren deiner Strähnen, flechte ich mein Lächeln ein, ziehe es mit meinem Herzen zusammen in den Wirbel rein, der links auf deiner Kopfhaut thront, macht an dir alles so erhaben.

Wenn du diesem Ziehen folgst, damit ich deine Wirren binde, grinst du und ich könnte fühlen, wie es ist erfüllt zu sein.

Doch die Wirren deiner Strähnen fehlen mir jetzt viel zu sehr, ihr Gewicht machte viel leichter, was die Leere macht so schwer.

Dass die Leere in den Händen die Dunkelheit im Herzen nährt, hätt ich nie gewagt zu sprechen, solange nur dein Lächeln währt.

Vielen Dank für all eure Beiträge und viel Spaß beim Erkunden der Gewinnertexte von Selin Eslek, Alva Kozempel,   
Ronja Lobner, Nina-Sophie Raach, Lena Riemer und Sarah Stemper!

Schreibe, um zu träumen.