Unsere Gewinner*innen im November 2020

Wettbewerb im November 2020

„Das Leben bleibt / Noch, der Sommer naht / Weihnacht fällt aus“ – Zu unserem Thema im November, „der erste Peak meint meist nicht Neige“, erreichten uns zahlreiche Gedichte, die Bezug zur aktuellen Situation rund um Corona nehmen, aber auch Texte, die sich dem Thema ganz frei genähert haben. Die Titelzeile stammte im November aus einem Gedicht von Arnold Maxwill, „Fink Loit“, und weckte Assoziationen rund um den zweiten Corona-Lockdown. Da sich die Lage bis heute weiterhin zugespitzt hat, endet das Jahr für Viele nicht im Kreise ihrer Lieben und besonders dieses Thema, die Einsamkeit, spiegelt sich häufig in euren eingereichten Texten wider: „schöne worte formen keine liebe und ein zoomcall keine zweisamkeit. dieses jahr wohl kälte ohne glühweinausgleich“. Wir gratulieren den sechs Gewinner*innen im November!

Kalt sind die Novembertränen

Hannah Ellinghaus
2005

Kalt ist eine Novembernacht
Kalt und todtraurigsüß
Horch! der Neunte sieht zum Himmel
und wünscht sich, er wäre die 11

Frisch schmeckt der Nebel auf grauem Gras
Und die letzten Blätter brennen rot
und gelb und orange und braun
und tot auf dem grauen Gras

Kühl trinkt die Luft die stille Ruhe
während alle schweigend hasten
um zu viele schlimme Worte zu sprechen
und sie zu vergessen, die Ruhe

Frostig sieht der Mond aus Wolkenmeeren
dass niemand ruht und regt sich wagen
allein im Rudel ziehen die verstoßenen
Wölfe aus Nebelwogenmeeren

Eisig sind der Menschen Herz
und frisch und kühl und frostigkalt
doch niemand sieht der Schönheit Wille
so verfroren ist dieses kalte Herz

Kalt ist eine Novembernacht
Kalt und todtraurigsüß
horch, der Neunte geht zu Ende
denn die kalte Perlenpracht ist tot

hochkant|denken

Maria Jahn
2001

schmeiß mir die Dosen in den Weg
ich zertrete Leere mit Worten die
ich nicht sage wirf irgendwas auf
Blicke im seichten verschwommen
sprich mit mir aber sprich mich doch
bitte nicht an ich geh nicht ran
zwei monate antworten auf ungefragte
fragen und ich kenne deine Hunde bevor
du meinen namen und hinter stumm
geschalteten Fensterscheiben wo die
Strahlen nur die Staubschichten streichen
wächst der Efeu mir aus dem Blick und
es ist zu laut für die stillen geworden auf
der Sackgasse gibt es keine Stellplätze für
die die nie ruhn immer im Kreise Eklipse
auf und ab dem Licht nach aus den
Dunkelwolken Kalender für Kalender
kalter Atem hinter fassaden wo liegt das
Leben vergraben sag wo liegt die liebe
vergraben in einer transparenten welt
schreit dir ins linke ohr doch geht den
rechten weg sie nur nie nur links
weil es nicht rechts ist seid doch
l.e.i.s.e.
nasenspitze gen asphalt und kopf gen
der berge die derselbe wind bereist
keine adapter wie beeren im beet
die wahl und der wal im ozean
immer weiter

Sehn Sucht

Alva Kozempel
2004

Sehnen hüllt meine Knochen, mein Fleisch und der Boden vibriert, mir ist unendlich heiß in dem zu engen Kleid und doch fühl ich mich frei, vom Bass traktiert.

Stimmen, die fern an mein Ohr klingen. Worte, die wie Staub in der dicken Luft hingen, greife ich nach und nach und setze das Puzzle der Erinnerung zusammen. Wie Viren der Gefühle um gingen.

Schleichende Schritte im steigenden Rasen, gleich kommt der Drop und alle gehen in die Knie in Extasen und als wir uns selbst im Beat vergaßen, hat deine Freude meine Lippen benetzt.

Gleiten auf Boden von glattem Parkett hin wie besessen, schwingen die Hüften in oder doch neben dem Takt, denn der ein oder andere ist eben zu vertrackt um sich wirklich der Freiheit von Sehnen hinzugeben.

Aus kleinen bunten Gläsern desinfizieren wir uns von innen gegen ein Virus das uns längst alle be-fallen hat. Cheers to the one’s that we got.

Sieh nur, wie unsere Gedanken in der Musik schweben. Wie die Getränke auf den Tischen, wie deine Blicke durch den Raum verwischen und alle einfach alles mischen, um es sich in die Birne zu kippen und sich in andere Sphären zu schicken.

Die Depression heißt Jugend. Die Diagnose: manisch. Wir haben Hochs und Tiefs und wir kommen mit gar nichts in den Herzen und gehen mit viel weniger.

Im Moment ist alles so unendlich leer und grade weil da keine Aussicht auf ein Ende ist, legt uns die Euphorie eine Frist, egal wie und wo, nur Hauptsache jetzt. Denn wer kann schon sagen, ob uns morgen die Melancholie zerfetzt, wenn wir uns blass erinnern.

tag 325

Lena Riemer
2002

der erste peak meint nicht die neige und ein frost macht keinen winter. schöne worte formen keine liebe und ein zoomcall keine zweisamkeit. dieses jahr wohl kälte ohne glühweinausgleich dieses jahr wohl dunkelheit ohne lichterzug dieses jahr wohl wärme nur von heizkörpern gefälscht weil die echte einskommafünf abstand hält. theater ohne vorstellung leeres haus tote bühne vielleicht spielt ein melancholischer noch seinen monolog zu ende. nein dieses jahr nur kammerspiele hinter türen hinter fenstern hinter gittern zu erahnen was die tragödie der zeit wohl darzustellen vermag. vier wände grenzen die novemberwelt ab die so sicher und doch grau und tagfürtaggleich scheint. trübe glieder hängen in den raum hinein baumeln in stickiger luft photosynthese ist zwecklos geworden. das hier ist mein zimmer das hier ist das bett in dem ich wach liege das hier ist der tisch an dem ich weine das hier ist der boden auf dem ich arbeite das hier ist das dokument das meine nerven zusammenhält
(schon seit monaten) das hier ist der peak und nicht die neige.

der atheist in mir muss sein namaste finden

Sarah Stemper
2001

nur weil sich die nacht beruhigend auf den straßenscheitel legt
ist es noch nicht zu ende
warte auf den spätsommerregen
er wird kommen und nichts ändern
an der parklückenenge
durch den sorgenstau im himmel
illusionäres rosahupen
wenn der tag morgen wieder beginnt

       übersättigt vom leeren horizont hoffnung hamstern

doch jetzt erstmal das abendbrot
es gibt erloschene scheinwerfer und trockenes toast
wenn die ernüchterung methodisch wird
werden fragen größer

größer als dass narben zur erklärung reichen könnten

       when did 99 red balloons tranform into 99 blood red problems, zum beispiel

und trotzdem hören narben nicht auf zu geschwülsten
warte nicht auf tägliches pseudo-express-glück
briefkastenversprechungen erreichen nie den ortskern
ein zeichen von abwehrschwäche
wenn beim metallischen abklang das echo hallt

der herbst wird anwellen und geschwülsten
und der atheist in mir muss sein namaste finden
das vor der wirklichkeit

                   wunsch nach einem interlude
       die finken habens ja auch obwohl sie standvögel sind

5-HTTLPR

Julius Ullrich
2002

Die Seele
Verdrahtet und schwarz
Neuronen sprießen hervor
Der Prä-synaptische Spalt
Längst vermüllt und fast schon postfaktisch
Fugōkaku : Aktionspotential
Der Draht wurde zu heiß
Das Licht wurde geschmorrt
Die Kurve ging hoch:
Doch riss, wie der Berg zum Meer

Kein Kalium mehr da
Nur noch tonlose Wüste
Die Muschel wurde taub
Der Vorhang schloss sich
Gegen die Gewaltenteilungen
Teilungen der Stimmen im Gedankengewirr
Bühnen schwimmen in kreativer Verharmlosung
Natrium im Wasser
Kuraun, ウイルス
„Lost in translation“
Lost in NoNation

Im Weißen Haus wird gewählt
In Bergkarabach führen sie Senso
(Ob die Soldaten wohl den Mindestabstand einhalten? |
Schusswaffen machen es möglich)
Im Abgrund tanzt die letzte L|Jug|den|d
Auf verbrannten Kohlen
Barfuß, sogar ohne Socken
Aerosole blockieren
Den Teefilter, grün, weiß, schwarz, fermentiert und doch erhitzt
Jedes Potential verschwendet
Die Kurve steigt
Der Spiegel steigt
Das Thermometer steigt/platzt
Langsam schmilzt der Wachs
Meine Flügel biegen sich
UV-Strahlen triefen durch das Loch
Wälder begehen suizid, lassen die Blätter fallen
Die Kurve steigt

Nur ein Meer aus Zahlen
Algorithmen diktieren mein Lebensziel
Ökonomen streiten mit Pseudo-Aposteln
Gegen den Faschismus predigen die Mönche
Orange aus Dosen, Orange wie Schlauchboote
Im Meer schwimmen so viele Kinderseelen
Sinken zur Sonne herab
Doch das Leben ist Mehrwert

Die Bühne, schon wieder leer
Die Krise, kurze Amnesie
Der Delfin lacht in der Stadt auf Stelzen
Alkohol in Strömen vor der Nacht
Doch das Wachs ist geschmolzen
Die Kurve immer da,
wieder

Der letzte Peak bringt meist das Ende
Der Prä-synaptische Spalt fürchtet
Das Ausbleiben der
Hyperpolarisation
Zu kurzes Allel, im Winter
5-HTTLPR Takt gebend
Jisatsu
Manchmal reicht der erste Peak
Bringt das Ende
Der Rest schmilzt im Licht der Sonne
Die Krone geht an uns vorbei
Das Leben bleibt
Noch, der Sommer naht
Weihnacht fällt aus

Wir gratulieren den Gewinner*innen im November sehr herzlich! Hannah Ellinghaus, Maria Jahn, Alva Kozempel, Lena Riemer, Sarah Stemper und Julius Ullrich: Eure Texte wurden von der Monatsjury ausgewählt und gehen in die lyrix-Jahreswertung 2021 ein!

Schreibe, um zu träumen.