Unsere Gewinner*innen im Dezember 2020

Wettbewerb im Dezember 2020

Die Gewinner*innen des letzten lyrix-Themas im Jahr 2020 stehen fest! Im Dezember haben wir euch um Gedichte rund um „Weihnachtswunder“ gebeten. Inspiration gab es von Temye Tesfu und seinem Text „advent (advent)“. Zu seinem Monatsthema erreichten uns besonders viele Texte, zahlreiche Gedichte griffen vor allem den Gedanken der Kapitalismuskritik auf, da ist von „knitterfolienkapitalismus“ und „kitsch und konfekt“ die Rede, von Scheinheiligkeit und Konsum: „Fridays for Future möchte der Natur nah sein / und stellt sich einen Tannenbaum ins Wohnzimmer / darunter Amazon Geschenke“. Einsamkeit und Leere ist ein wiederkehrendes Thema: „Unsere Herzen bleiben kalt“. „Dieses Jahr gibt es keine Weihnachtswunder. Doch wundern werden wir uns trotzdem (atme!)“

knitterfolienkapitalismus

Rosa Lobejäger
2003

zimt für zink
zucker für kupfer
bröselig wie apple crumble
du bist sowieso nicht mehr als eine
reklamepuppe

kitsch und konfekt
kristallisiert
lamettabenetzt
augenschmuck
mehr als je von deiner körperwärme tauen könnte

kapitalismus ist wie candy crush
am ende gehen alle dran kaputt


goldbeflissene stickerei
die subjektive objektive kandiszuckertriefende anstößigkeit:
god and sinners reconciled
die kälte tröpfelt
aus deinem lid
weinst du mit
berechtigung oder aus
zerbrechlichkeit?

WEIHNACHTSwundER

Sophie Mrotzeck
2004

Hinter kaltem Glas fliegt sie durch die Luft,
füllt/SCHMÜCKT kahle Stellen an den Wänden,
feiert alleine mit Wein/PUNSCH und Fernseher/TANNE
und weint/LACHT kehlige Laute, nicht weil ihr danach
ist, sondern weil es die Atmosphäre vervollständigt.

Bunte Kerzen/WEIHNACHTSLICHTER erleuchten ihren Baum,
weiße Plastikflocken/SCHNEEFLOCKEN hat es gegen ihre Fenster
wehen lassen und schon ignoriert sie diese Leere/KÄLTE,
die sich durch alle Ritzen in das Innere/HAUS zu drängen scheint,
an ihren Füßen kratzt/KITZELT und hinter ihren Augen/TÜREN drängt.

Betäubt/SEELIG singt sie die gleichen Lieder,
die sie bereits Jahre zuvor gesungen
haben muss. Als sie kein Weihnachten
für Wärme/SICH aufhängen musste/BRAUCHTE,
Eiszeiten ein Phänomen aus fremden Leben/WELTEN war.

Der Tod/HEILIGE GEIST, denkt sie, als es beginnt an ihr zu reißen/ZUPFEN
und zu brennen/KRIBBELN, wie kalter Hagel/SANFTER SCHNEE,
während helle Lichter beginnen zu tanzen
und Plastikflocken durch den windstillen Raum wirbeln.
Es schreit alles: WEIHNACHTSwundER

Advent, Advent, das Klima brennt

Charlotte Schnurr
2002

Du sitzt da
Herz schwer
denn es ist Weihnachten
Trübe schaust du in den grauen Schnee am Straßenrand
Ein Weihnachtswunder, sage ich, und singe ein Lied
~Weihnachtliche Aerosole~
Es war nicht mal September, als neben der Kasse der Lebkuchen stand
Es war nicht mal November, als du Plätzchen backen begannst
Es war der 24. Dezember, als du anfingst die Geschenke zu verpacken ~liebevoll~
Last Christmas, I gave you my heart
Geschmacksverlust
Zu viel Zucker, die Diagnose
Oder doch Corona?
Selbst der griesgrämige Mann von Nebenan grüßt im eisigen Morgen
~sugar rush~
Fridays for Future möchte der Natur nah sein
und stellt sich einen Tannenbaum ins Wohnzimmer
darunter Amazon Geschenke
ausgepackt und wieder eingepackt ~liebevoll~
Jetzt mit weihnachtlichen! Sternchen
„kapitalismus tötet“
AHA
Abstand, Hygiene, Alltagsmaske
Lass uns Datteln 4 mit Lametta schmücken
Dem Obdachlosen auf der Straße „Fröhliche Weihnachten“ entgegen plärren
Lass uns heute Abend keine Nachrichten schauen
sondern in die Kirche gehen
Weihnachtliche Dinge tun eben
Eltern schauen gerührt auf ihre siebenjährige schwangere Tochter
die den Text vor lauter Aufregung nicht aufzusagen weiß
Theater ist auch dieses Jahr in den Kirchen erlaubt
„die Kirchen müssen offen bleiben“
Du sitzt da
Herz schwer
denn es ist Weihnachten
Weihnachten ist Opium für das Volk, sagst du
des Volkes, sage ich
Und vergesse deine und meine Probleme
und singe von unserem Glück

Doron

Felix Schwägerl
2000

In kühlen Schlehen
Im Allgrau der Winter
Im Wind wie Schleifpapier

Wird uns Gott geboren

Man schenkt Skulpturen aus Zeit
Bilder und Worte aus Sand
Prophezeit ohne Kunst
Wasser und Wolken

Schält das Meer in Milch und Honig
Presst Wein noch aus den Dornen
Sät wenig Zukunft
Erntet viel Vergangenheit

Wir haben alles nur kein Kreuz

Wird uns Gott geboren

Im Wind wie Schleifpapier
Im Allgrau der Winter
In kühlen Schlehen

Das ist sein Geschenk

Schneekugelwelten

Sophia Stumpf
2003

Wir stehen still. Kein Schnee fällt sanft auf unsere gefrorenen Füße
Unsere Herzen bleiben kalt, eingebettet im Flackern der sterbenden
Lichterketten, deren Schein(werfer)hoffnung langsam schwindet.

Heiligkeit ist verkommen, an den leeren Wundern haben wir uns wie
Lebkuchen die Zähne ausgebissen, verstaubt bis uns der Dreck durch die
aufgeplatzten Lippen gerieselt ist. Röchelnd nach dem süßen Kuss irgendeiner

Erlösung. Gottlos taumeln wir in einer (atme!) lebensmüden Zwischenwelt
in der wir unsere ausgelaugten Gesichter in den überfüllten Gläsern unseres
Glühweines nicht mehr erkennen. Gierig schlingen wir ihn runter. Es brennt

doch so schön. Dann fallen wir rückwärts in den erbarmungslosen Himmel.
Durchhalten ist dieses Jahr nur noch die Adventskalendertüren aufzureißen
als würde man Stück für Stück die letzten Fetzen des Jahres auseinanderbrechen.

Endlich. Schau, wie das Kohlendioxid sich in Tröpfchen auflöst und dich umhüllt:
Glitzernd wie Puderzucker, wuchernd, bis es an deinen Lippen kleben bleibt.
Und dann bleibt nur noch sie, diese verdammte Einsamkeit. Wie alte Freunde

umarmen wir uns. Dich darf ich ja nicht. Hinter unseren Kuppeln aus Plexiglas
wird dein Lachen verzerrt, als wären wir in den dickflüssigen Chemikalien unserer Schneekugelwelten gefangen. Ich klopfe, du hörst mich nicht. Er erhört uns

nicht. Den Engeln wurden die Flügel abgerissen. Auch sie fliegen nicht mehr.
Dürfen nicht – Luftverkehr eingestellt. Also weinen sie mit uns, diese Weihnachten.
Schauen den Fenstertheatern der Einsamen an Heiligabend zu. Applauslos.

Überkompensiert verstecken wir unsere ausgemagerten Seelen in Lametta-Massen,
erhängen unsere Existenzängste in den Kugeln an unseren blindhellen Bäumen.
Erst im Abfall unserer Weihnachtsmanie, umringt von ermüdetem und ermattetem
Zauber – dann werden wir es merken.

Wir standen still. Kein Schnee fiel sanft auf unsere gefrorenen Füße. Unsere Herzen sind
noch kalt, und die Hoffnung ist schon längst verschwunden. Dieses Jahr gibt es keine Weihnachtswunder. Doch wundern werden wir uns trotzdem (atme!)

pas assez de rêves

Clara Wendel
2003

antike blicke
deine fingernägel
rot von weihnachten
splitternd
stolpern gedanken
aus meinem mund
sekunden zählen
bis silvester
die letzte ziffer
doch versäumt
eure küche roch nach
milchschaumkaramell
und deine augen durstig
warm genug
dein zimmer
zu klein zum tanzen
im flur
die kleine spiegelwand
die eigentliche
allergie gegen nachbarn
zur seite geschoben
grußpralinés
am treppengeländer
es wird spät heute
an silvester
offen für
polohemden und kaltkleider
dunkelblau
tropft erwartung
von deinen augen
ich schmunzle
diese ungenaue vorfreude
einfach weg
dein geheimnis sind
die aussicht und
die silber-etagères
das lächeln reicht
für uns beide
und die gäste
kümmern sich so süß wie
champagnerflöten
vornehm sind
tischdecken aus stoff
nächte aus kristall
du bist gut im
in-den-griff-kriegen
ich vertraue
der kohlensäure
in meinem glas
denke
wenn die zimmer
groß genug zum tanzen werden
kannst du die
vorfreude endlich vergessen

Herzlichen Glückwunsch an Rosa Lobejäger, Sophie Mrotzeck, Charlotte Schnurr, Felix Schwägerl, Sophia Stumpf und Clara Wendel! Eure „Weihnachtswunder“-Gedichte wurden als sechs beste Texte im Dezember 2020 ausgewählt!

Schreibe, um zu träumen.