schon damals immer noch ein kind

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2020-03-31 24:00:00]]

Wettbewerb im März 2020

Wie beschreibt man den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter? Wie ändert sich der Blick auf das eigene Ich, das man eben noch war? „schon damals immer noch ein Kind“ – diese Zeile aus Yevgeniy Breygers Gedicht „Noch fünf Tage“ ist unser Monatsthema im März. In Rückblicken auf die Eltern, auf die eigene Kindheit und Jugend, auf prägende Erlebnisse und Empfindungen treffen sich in diesem Text Vergangenheit und Gegenwart, Erwartung und Erinnerung. Welche eigenen Erfahrungen wecken diese Zeilen in euch?

Noch fünf Tage

Yevgeniy Breyger

 I 

es war der mai, an dem das innere nach außen drängte. 
ein grüner panzerkäfer rief mich namentlich, 
ich kannte meinen namen nicht. 
saß blöd im schlauchboot, trieb zu mutter.

 

das meer in meinem hemd blieb schwarz. 
und ich? wie mutter längst 
von faulheit überwachsen, hastig, 
biss käferbeinchen ab beim wandern.

 

das schlauchboot war mein alter ego kleines mädchen, 
mehr zahnlücke als zopf und magenblind. 
schon damals immer noch ein kind, war ich, 
und wusch aus bosheit nur die andern.

 

II

 

vor fünfzehn jahren, im spiegel, sah ich 
die kommenden verrisse. ein kiosk um die ecke 
war für mich die welt. ich hatte mich 
auf ein podest aus rotz gestellt und rief: du wurst

 

 im glas. wie zärtlich pustest du dir wimpern von den finger- 
kuppen vorm schlafengehen wenn du betest? 
wie überzärtlich schwitzen deine hände als heimliches 
exil deiner fiesesten wünsche? 

 

im wiederscheine dieser schweren fragen 
entdeckte mich die lyrik, wie jeden tag ein ding 
entdeckt die amateure – ein tag kann lang sein, 
ein arm kann schlank sein, aber wer gesteht mir seine liebe?

 

  III

 

 oh seltsames gerede vom verschwinden der vögel 
in fremden ländern. lieber abfluss, armut, stausee 
aus realen problemen. meine eltern waren thermische 
gesetze, ich wurde niemals geboren.

 

 an euch vorbei schwamm ich durch spätromantische 
gedichte, karel hynek mácha 1810–1836, adam 
mickiewicz 1798–1855, auch juliusz słowacki 1809– 
1849, mein polnischer wurm im preußischen fisch.

 

 ich hoffte damals, dass ein mensch mich 
in die zukunft schiebt – das ist wie wenn ein alter mann 
sich selbst im krankenzimmer liebt. grad war er da, 
schon hab ich ihn an die erinnerung verloren 

 

 IIII 

 

auf einem beistelltisch ein riesenauge,
wimpern, deine, o-saft-glas, halbleer. 
und du auf unsrer couch mit kling, 
hast mich verbraten. ein silbernasenring

 

war zwischen uns zu viel: was wahr ist, war. 
was rast, verschiebt gemeinsamzeit auf bald. 
ohne dich ist mir kalt. mir fällt auf, die heizung 
riecht so lang bereits nach terpentin.

 

ich würde so gern gehen und lege mich daneben. 
draußen sirenen, kontaminiertes wasser, 
ein freies elektron dringt in einen fisch. 
was wird das für ein leben 

In rätselhaften Bildern und dabei fast nüchternen Beschreibungen berichtet das Gedicht von der Suche nach Identität. Orientierungslosigkeit, Wandel und Vergänglichkeit – viele Aspekte klingen an, erkennt ihr euch wieder oder habt ihr 
ganz andere Empfindungen?

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Yevgeniy Breyger, Foto: Gabriela Cuzepan

Yevgeniy Breyger, geboren 1989, studierte an der Universität Hildesheim, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Hochschule für Bildende Künste, Städelschule, Frankfurt am Main. Breygers Debütband „flüchtige monde“ erschien 2016 im kookbooks-Verlag, Berlin und wurde unter die besten Debüts des Jahres im Haus für Poesie und unter die Gedichtbände des Jahres im Literaturhaus Berlin ausgewählt. 2018 erhielt er den 2. Preis beim Lyrikpreis München und gewann 2019 den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt. 2019 erhielt er zudem ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und Aufenthaltsstipendien im Stuttgarter Schriftstellerhaus sowie im Herrenhaus Edenkoben 2020. Breyger lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied des Dichter*innenkollektivs Salon Fluchtentier.

Das Ausstellungsstück zu unserem Monatsthema ist ein ärztliches Rezeptbuch. Es stammt ursprünglich aus dem Tübinger Klinikum, wo Hölderlin 1806 zwangsbehandelt wurde. Per Rezept wurde ihm damals ein Spaziergang verordnet. Was diese harmlose Maßnahme nicht verrät: die offizielle ärztliche Diagnose lautete Wahnsinn – ein bis heute vieldiskutiertes Urteil, das den Blick auf sein Schaffen noch immer beeinflusst. Unbestritten aber zählt Hölderlin zu den bedeutendsten deutschen Dichtern des 19. Jahrhunderts. In seinen Werken beschreibt er unmittelbare Empfindungen in einer gefühlvollen, freien und bewegten Sprache. Sein Stil war zu seiner Zeit besonders, wofür er Bewunderung, aber auch Skepsis erntete: „Sollten … einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muss ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders.“

Copyright: Württembergischer Landesbibliothek Stuttgart, Hölderlin-Archiv

Von der Romantik des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwartslyrik gibt es viel zu entdecken – wir sind gespannt, zu welchen Texten euch das Erbe Hölderlins und vor allem Yevgeniy Breygers Zeilen anregen und welche sprachlichen Bilder ihr für eure Erfahrungen, Erlebnisse und Selbstbefragungen findet. Wir freuen uns auf eure Einsendungen!

Hölderlin 2020 – lyrix-Schreibwerkstatt mit Yevgeniy Breyger

„im widerscheine dieser schweren Fragen entdeckte mich die lyrik“ schreibt Breyger. Er wird am 10. März 2020 eine Schreibwerkstatt in unserem diesmonatigen Kooperations-Museum leiten: dem Hölderlinturm in Tübingen, der letzten Wohnstätte des Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1834).

Informationen zur Anmeldung gibt es hier:

https://www.tuebingen-info.de/tuebingen/event/detail/Hoelderlin-2020-lyrix-Schreibwerkstatt-mit-Yevgeniy-Breyger-1692146

lyrix zu Gast im Hölderlinturm Tübingen

Schreinerwerkstatt, Dichterwohnhaus, Literaturmuseum: 
Der Tübinger Hölderlinturm ist ein literarischer Ort – ein Ort, der zur Auseinandersetzung mit Literatur einlädt, sie sinnlich erfahrbar macht und selbst in die Literaturgeschichte eingegangen ist. In diesem Turm am Neckar hat der Dichter Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) die zweite Hälfte seines Lebens verbracht. Für Hölderlin war der Turm ein Ort des Rückzugs, der Abkehr von der Außenwelt. Hier entstanden seine spätesten Gedichte, die er häufig mit dem Pseudonym »Scardanelli« unterzeichnet hat. Hier wurde er von Zeitgenossen, Bewunderern und anderen Schriftstellern aufgesucht. Auch nach seinem Tod ließ das Interesse an dem Ort nicht nach. Heute zählt der Hölderlinturm zu den bedeutendsten literarischen Erinnerungsorten weltweit und ist in zahlreiche literarische, musikalische und künstlerische Werke eingegangen.

https://www.tuebingen.de/hoelderlinturm/


Copyright: Hoelderlinturm, Foto: Gudrun de Maddalena

Schreibe, um zu träumen.