meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2020-04-30 24:00:00]]

Wettbewerb im April 2020

Im April nimmt uns die Autorin Caren Jeß mit auf eine Wanderung: Turnschuhe „schmatzen im Matsch“, die Sonne war „wie ein Corega Tab im Himmel“, „längst kreisten Puddingteilchen“ um den Kopf – alles ganz normal, doch dann: die Mutter verschwindet in einem Moorloch, “jetzt spielt sie / mit den Schlammmonstern / Memory“. Das Alltägliche kippt ins Fantastische, familiäre Spannungen gipfeln im Grotesken. Tragisch? Komisch? Beides? – lasst euch inspirieren!

Moor

Caren Jeß

meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen 
es hatte sich vor ihr 
aufgetan 
schwarz schlammig und modrig wie Jauche

der Himmel war grau braun 
und karg lag das Land 
gebrochene Äste 
vereinzelt 
knacksten unter den Nikes 
können dann auch weg 
dachte ich 
und hörte sie schmatzen 
im Matsch

meine Mutter schritt 
wie ein abgeklungenes Gewitter 
die Pfade entlang 
wir sprachen nichts 
atmeten ruhig 
durch den Januar 
schau mal!, ein Tier 
rief ich 
und mein Finger 
vollzog 
einen Phrasenbogen

die Sonne lag 
wie ein Corega® Tab im Himmel 
ihr Licht wühlte sich fad 
durch massiges Grau 
und der Mutter 
rann 
eine Träne 
die Wange 
herab 
doch 
ich hatte nur 
die Frau mit dem rosa 
Brillengestell im Kopf

wir gingen seit Stunden 
und länger 
längst kreisten mir 
Puddingteilchen 
um den Kopf 
hast du geweint? 
nein, es nieselt 
ach so 
aber trotzdem hier 
stimmt doch was nicht 
eine Krähe schrie 
krah 
fuck 
das war das Moorloch 
und Mutter war weg

Meine Mutter ist in ein Moorloch gefallen 
jetzt spielt sie 
mit den Schlammmonstern 
Memory

In fast minimalistischen Versen verwebt Caren Jeß Bilder und Gedanken zu einer Alltagsgeschichte, die ein obskures Szenario rahmt. Eigenwillige, kunstvolle Rhythmen vermitteln die Bewegung des Gehens, erzeugen Spannung und Emotionen. 
Schweigen und ausweichende Antworten machen die bedrückende Stimmung spürbar, die sich ins Unheilvolle steigert: 
Die Mutter verschwindet in einem Moorloch, wo sie „mit den Schlammmonstern Memory“ spielt. Das Abgründige der zwischenmenschlichen Beziehung wandelt sich in den buchstäblichen Abgrund, der sich im Moor auftut. Der Rückgriff aufs Groteske eröffnet einen Raum für das Unsagbare im Alltäglichen.

Die allegorische Anverwandlung der Natur als Ausdruck menschlicher Emotionen hat eine lange Tradition in der Kunst, wie sich auch an unserem diesmonatigen Ausstellungsstück zeigt: Der mythologischen Figur der Daphne, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt – weiter unten findet ihr mehr dazu!

Grotesk, humorvoll, tragisch – wir sind gespannt, zu welchen sprachlichen Metamorphosen euch familiäre Wanderungen, Schlammmonster und mythische Nymphen verleiten. Wir freuen uns auf eure Texte!

Video-Tutorial: Schreibimpulse von und mit Caren Jeß

Caren Jeß, Foto: Mathias Hainke

Caren Jeß, *1985 in Eckernförde, schreibt Dramatik, Prosa, Lyrik und Drehbuch. Mit ihrem Theaterstück „Bookpink“ gewann sie 2018 die Residency des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik, es folgten Einladungen zum Heidelberger Stückemarkt (2019) und zu den Mülheimer Theatertagen (2020). „Der Popper“ wurde mit dem Else-Lasker-Schüler Stückepreis 2020 ausgezeichnet. Für ihre „Ballade von Schloss Blutenburg“ erhielt sie den Publikumspreis des 26. open mike – Wettbewerb für junge Literatur. In Berliner Justizvollzugsanstalten leitete Jeß Schreibworkshops.

Unser Kooperationspartner im April: Das Hygiene-Museum in Dresden

Passend zu unserem Monatsgedicht dient ein Kunstwerk aus der Ausstellung „Von Menschen und Pflanzen. Ein Streifzug über den grünen Planeten“ aus dem Deutschen Hygiene Museum in Dresden: Die Bildhauerin Renée Sintenis (1888-1965) fängt in ihrer Bronzeskulptur Große Daphne, 1930, den Moment der Metamorphose der Nymphe in eine Pflanze ein. Der griechischen Mythologie des Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) zufolge verwandelt der Flussgott Peneios seine Tochter Daphne zum Schutz vor dem liebestollen Apollo in einen Lorbeerbaum. Sintenis zeigt den Moment des Übergangs von Mensch zu Pflanze, von Haut zu Blatt, von Bewegung zu Verwurzelung.

Ausstellungsansicht 
Renée Sintenis, Große Daphne, 
1930 Bronze, gegossen 
Museum Ludwig, Köln

Foto: Oliver Killig
Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Foto: David Brandt

Deutsches Hygiene-Museum Dresden

Im Deutschen Hygiene-Museum öffnet sich die Welt des Menschen, seines Körpers und seiner Kultur. Die Dauerausstellung 
„Abenteuer Mensch“ zeigt faszinierende Objekte wie die berühmte Gläserne Frau und lüftet die Geheimnisse des Lebens interaktiv: z.B. auf einer Balancierstrecke oder beim Gehirn-Duell „Mindball“. Unter der Devise „Staunen – Lernen – Ausprobieren“ beschäftigt sich die Ausstellung mit Schönheit, Sexualität, Ernährung, Bewegung oder dem Denkvermögen. Eine Mitmach-Ausstellung nur für die Jüngsten bietet das Dresdner Kinder-Museum „Welt der Sinne“: In Spiegelkabinett, Tasttunnel oder an einem Streichelautomaten können Kinder von 5 bis 12 Jahren ihre Sinnesorgane von Kopf bis Fuß auf die Probe stellen!

Europaweite Beachtung finden die Sonderausstellungen des Museums: Sie beschäftigen sich mit einem breiten Spektrum von aktuellen und historischen Fragestellungen – von Glück und Leidenschaft über Sex, Tod, Sport und Tanz bis hin zu Klima, Sprache oder Scham. Mit ihren kuratorischen Konzepten und neuartigen Szenografien stoßen sie auf Resonanz nicht nur beim allgemeinen Publikum, sondern auch in der Museums- und Medienszene. 
Aktuell zu sehen: Future Food. Essen für die Welt von morgen (bis Februar 2021)

www.dhmd.de

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