Unsere Gewinner*innen im Mai 2020

Wettbewerb im Mai 2020

Im Mai haben uns sehr viele Gedichte erreicht, es freut uns sehr, dass euch das Thema mit dem Text von Lütfiye Güzel so gut gefallen hat! In kleinen und großen Alltagsszenen, mit Gegenständen und Objekten, in Räumen und Städten, in Begegnungen mit euch selbst oder mit anderen habt ihr euch auf die Suche nach euren eigenen Fragen und Antworten begeben. Vielen Dank für all die großartigen Beiträge und viel Spaß mit den sechs Gedichten, die von der Jury als beste Texte gewählt wurden.

warum man in online-formularen in der namenszeile keine zahlen eingeben kann

Carolin Wittmann
2000

und während ich ihrer stimme durch den dünnen türspalt der weisen tür mit dem großen buchstaben T lausche
komme ich einfach nicht darauf, warum sie glaubt dass ein besuch bei ihrem ach so tollen heilpraktiker mich über 50 kilo wiegen lassen würde       (oder warum das wichtig wäre)
so rolle ich hin und her
auf ihrem ach so gesunden quietschtürkisen gymnastikball
halte die luft an
halte mich selber an
halte die welt an
und das erste mal in vier Jahreszeiten klappt es
dass ich
nicht mehr da bin
oder genau so da bin
wie die klamotten die kreuz und quer im raum explodiert sind
auf der vorhergegangenen suche nach etwas
das mir noch passt
mein leben
ist mir ein paar nummern zu groß

und als ich da hänge
mich blass vom türkis abhebend
bin ich nur noch ein fetzen haut und knochen
wie das tshirt ein fetzen baumwollstoff und nähte
die hose ein fetzen leinen ist
und genauso bin ich das perfekt formbare auftreten im alltag
wie die klamotten es für die leute sind
die sie sich extra dafür kaufen müssen

und das erste mal in vier Jahreszeiten klappt es
dass nur mein Ich im raum schwebt
doch was ich sehe
verstehe ich nicht
weil es mir nicht gefällt
ich bin von lauter fäden umgeben
die an den nähten, am saum, auf den seiten heraushängen
und flecken
in den tshirts ketchup
auf den hosen kaffee
und ich verstehe nichts mehr
weil ich in meinem kopf
vor lauter geschichten die die klamotten mir vorlesen
fast erdrückt werde
und ich verstehe nichts mehr
weil alles zerknittert ist
und erst dadurch so bunt wird
die schatten die sich in den falten einnisten und eine berglandschaft aus dem wunderland erzeugen
wieso wollte ich dann
mein ganzes leben lang
so perfekt glatt sein
wessen idee war das denn

und das was mit mir geschah
war nicht ich
das, was mich in die höhe schleuderte
mir die klamotten anzog
die schuhe an die füße klebte
und mama beim rausfegen die telefonschnur vom finger zog
das war nicht mehr ich
denn ich
wollte es nicht mehr sein
wollte mehr sein

Von jetzt an
Will ich keine Größe 30 sein
Von jetzt an
Bin ich Tamara

narben einzeichnen oder aber auch: sich selbst verlieren

Sarah Stemper
2001

blut
kleidet mich ein
muskelkrampf
zieht
mich aus
gelebt habe ich nicht
in meiner jugend zumindest

haarscharf: die hautschnitte durch
klingen
neuronal gesehen nach fernsehstör-
signalen
deinem blick
blass:blass:plasmarm


                          (wie recycle ich die bitterstoffe in meinem blut [?])

die ressourcen
reißen reiben
unfälle auf
unsere mythen als stütze
ist verlass
auf die embryonalen oberflächlichkeiten


                                       (?)

nicht

muschelmatsch
sondern gottpisse


                (dann mäandert das blut chemisch gesehen wenigstens als lösung)


& erleb-
nisse nisten in muskellappen
hängen dran
am abgeschriebenen der postkarte 
ich gab mein bestes.

das letzte mal das du dich vor mir auszogst war im sommer, aber da fühlte es sich nicht so an

Rosa Engelhardt
2001

du wäschst ab, es ist übergeschwappt
ich esse noch marmeladenbrot, dick klebt das fruchtgedärm auf sauerteigscheiben
ich lecke es ab ohne meine zähne zu versenken, streiche immer neue schichten
es plätschert, du machst es schon lange, das wasser ist trüb
aufgedunsen scheuern deine finger essensreste, wohl vom frühstück noch
schlangen, sagst du, schlangen häuten sich wenn sie zu groß geworden sind,
zu groß für ihre haut

du drehst den wasserhahn, es rauscht
sie häuten sich, sagst du,
und unser größerwerden? nie gehalten irgendwo, nur im vorbeigehen mal gesehen –
ich selbst bin fünfzehn striche an dem rahmen mutters tür, danach hab ich aufgehört zu wachsen

du schrubbst ein messer, ich sauge marmelade auf
fünfzehn striche, schlangen wachsen ihr leben lang
ich kratze die reste aus dem marmeladenglas
ihr leben lang werfen sie ihre haut ab, dabei tun sie reibende bewegungen, es geht recht schnell. die anstehende häutung erkennt man an der augentrübung der tiere, das ganze fängt bei den lippen an, über die nasenlöcher, augen und den kopf
das geschirr klappert im abtropfgestell
ich hielte gerne meine alten häute in der hand. ich würde sie von der sonne trocknen lassen, und dann in alten gläsern verschließen. ab und an würde ich sie betrachten und in ihrem gefäß herumdrehen
du bist fertig, deine hände unter wasser, aber du ziehst den stöpsel nicht
schön wären sie, schön und zusammengefaltet, und die sonne würde leicht hindurch scheinen
schlangen, sagst du, und ich weiß, wie gedunsen deine finger gerade sind
zieh dir doch handschuhe an, will ich sagen, stattdessen reiche ich dir das leere marmeladenglas                                                         (ich will nicht in deiner haut stecken)

zwischen den fugen

Lena Riemer
2002

„If I lay here/ If I just lay here”

mein leergeschriebener kopf ruht auf küchenfliesen. kalte fremdvertraute härte und dieser neue lebensabschnitt presst in die fugen. bitte bitte roll die tinte von meinen fingerkuppen und nimm das muster als beweis meiner menschlichkeit. ich bin ein ausstellungsobjekt mit abitur in einem covidgeschlossenen museum aber wohin führt der bildungsweg wenn sie die bescheinigung übergeben und mich dann mit dem leben alleine lassen. wie ein tshirt ausge-zogen und liegen gelassen erinnerung sich auf der wolle zersetzend. vielleicht wird ja eines tages mal jemand nachschauen ob ich noch (er)tragbar bin. die letzten stresstropfen sinken von der stirn ins fliesensediment aber eigentlich will ich kein abitur eigentlich will ich dich. du wie du keine angst hast die fugen zu küssen wie du die fliesen wärmst wie du mir die ruhe in die schläfen flüsterst. kein waschgang kein bügeln nur ein hauch nikotin über die tinte gelegt.

„Would you lie with me and just forget the world?”

manchmal bin ich fassungslos, also allgemein und so plötzlich auch

Ruta Dreyer
2002

Ich rede mir ein, dass du deine Augen aufmachst und zuerst an mich denkst. Du riechst: Den Stoff meines Pullovers.
Du wartest auf meinen Kopf, wie er durch den Kragen schlüpft, die Hände, die sich zögerlich durch die Ärmel schieben.
Alles ist einfacher für uns, wenn wir diese Beziehung auf einen Pullover reduzieren.
Es hat nie mehr gegeben. Ich rieche: Gardinen.
Und wie sie in sich schrumpfen, die Luft um sie herum aufsaugen.
Denn alles wird weniger, als wäre davor alles immer zu viel gewesen.
Ich schlage vor, dass wir uns ausziehen, nur damit alles weniger materiell wird, ich vergesse, dass der Boden unter mir materiell ist.
(Und ich vergesse, dass wenn ich die Hände in die Ärmel zurückziehe, eine angenehme Sicherheit verspüre.)
Manchmal ist da eine Wucht, hinter meiner Stirn, irgendwie.
Also allgemein und so plötzlich auch.
Und eine Kälte im Nacken, die hinaufkriecht.
Manchmal bin ich fassungslos, wenn ich an uns denke.
Ich setze mich in deinen Kleiderschrank und es fühlt sich an, als wären diese Türen mir schon immer offen gewesen.
Ich starre auf nacktes Holz. Du nimmst meinen Pullover, gehst zum Kleiderschrank und öff-nest die Türen: Auch du siehst nun nacktes Holz.
Den Pullover hängst du an mir auf.
Was du noch an mir aufhängst, sind: Pupillen, lilienfarbene Garnituren und eine Schraube.
Ich starre durch den Spalt auf dich, ich sehe Gardinen.
Du hängst sie ab, wickelst dich hinein und legst dich unter das Bett.
(Würde jetzt jemand ins Zimmer kommen, könnte uns niemand sehen.)

in diesem

Ronja Lobner
2002

in dieser stadt | sieht man unter umständen kurz klar. wenn man wollte und wir uns nicht zuatmen. in dieser stadt. Mit diesem milchfilm liegend über ihr.

In dieser straße | gibt niemand etwas zu. auch die laternen. sie brennen heimlich aus. als wären sie fertig. mit sich. als dass es sie jemals wirklich gab. weißt du in den laternen brennt eine flamme die alles ersticken. könnte. dann wäre es. ordentlich und still. aber sie lassen sie nicht.

In diesem haus | schneiden wir uns an unseren eltern / an den papieren / und an der falschen kommode. wir sind nutzlos / stotternd und polyamourös auch.

In diesem wohnzimmer | alle bücher liegen auf dem sofa ungelesen. es wurde viel be-nutzt. wir auch. die pflanzen überwuchern schon unsere körper / sie passen sich an / etwas, das es nicht gäbe wenn man wollte.

In diesem sofa | sind plätze und wir die platzhalter. sollten wir das fenster putzen / die flecken fließen schon ins innerste / das kleinste teilweise berücksichtigt.

In diesem körper | steht etwas über sich während ein abriss von erwartungen sich ent-koppelt in wirklichkeiten. etwas das zuende geht mal.

In diesem geist | gedanken. unzählbarkeit macht sie offensichtlich und unwichtig auch. etwas das bleibt. für immer wenn man wollte.

(wir zögern das mit dem aufräumen schon echt lange heraus)

Schreibe, um zu träumen.