Unsere Gewinner*innen im Juni 2020

Wettbewerb im Juni 2020

„Deine zitternde Handschrift flickt die Gegenwart“ – zu Dinçer Güçyeters Zeile aus seinem Gedicht „die Gräser verstummen“ habt ihr uns viele Texte geschickt. Sie kreisen vielfach um Erinnerungen an schöne und schmerzhafte Erfahrungen, um den Umgang mit diesen Erinnerungen in der Gegenwart, um das bewusste Erleben von Gefühlen, die sich auch in der Wahrnehmung der Außenwelt spiegeln. Aus allen Einsendungen hat die Monatsjury sechs Texte ausgewählt. Wir gratulieren herzlich den Gewinnerinnen

Nachts im Gedanken Karussell

Pauline Kail
2000

Die Gedanken kreiseln leise,
über den Dächern der Blocks.
Wie warmer Dunst, himmelwärts
mit Fahrstuhl, in den 22. Stock.
Laternen
sind die Nachttischlampen der Straßen.
Konturlos und dämmrig
liegt die Stadt,
zwischen Wachen und Schlafen,
Fantasie und Realem.
Flüchtig ziehende Wolken
und fliehender Regen,
malen schwammige Kreise
und verschwommene Linien.
Funken über Funken
für wenige Sekunden;
ein kurzzeitiger Lichtbogen
und In meine Satellitenschüssel
schlägt ein Geistesblitz ein.
Von Wolke zu Boden,
von tief in mir, nach oben.
Ein intuitiver Ausbruch,
eine elektrische Entladung.
Zwischen Atmosphäre und Objekt
Fantasie und Realem.

von der nacht einvernommen werden – aber darüber spricht man ja nicht

Sarah Stemper
2001

die kois treiben unter der kopfsteinpflasterpiste träge
fühle ich mich
hast du benutzt und weggeworfen
rolle ich da jetzt ungebremst runter
begleitet mich der schnee
in den abgrund der anthropologie
entspricht das nicht was du mir angetan hast

du es mitbekommen
amtsschimmelpferde glauben mir nicht
die milch verschütten
wir unsere träume unter dem bergwerk der „ (gute) nacht!“
singen die glühwürmchen parodistisch
leuchten sie im morsecode
tümmeln sich kommunikationslücken
so wird die schwarze nacht auch
nicht mehr heller

kann ich mein handy stellen
wir uns vor google maps könnte orientierungslosigkeit im leben
entgegenwirken
kann ich den bildern aus der vergangenheit kaum
ergeben sie einen sinn
in meinem wörterchaos zu finden ist schwierig denn

                            wenn du deine zunge in meinen rachen steckst
                    mit wessen speichel spreche ich dann überhaupt noch?
                wenn sich deine fingernägel in meine moleküle einkratzen
                                                    gehöre ich dann dir?

du hast meinen namen in den wind
geschrieben
steht: wind hat kein gedächtnis und kein zeit
gefühl
interpretiert der duden
zu leichtsinnig
habe ich dir
vertraut
nie auf einen jetzt zustand
wird bei mir immer ewigkeit

nun bebt die straße mit meinen ekzemlippen um die wette.

(mein kopf macht sich schön als flummi er hinterlässt sogar splitter dabei)

wann ist der richtige zeitpunkt zum weinen?

                                         (cherié kois erfrieren ohne mantel)

abzug

Rosa Engelhardt
2001

im untersten regalbrett steh ich in zwölf bänden
sie muss in die knie um die abgegriffenen rücken zu erreichen
dann schlägt sie auf, blättert um, es knistert
wenn ihre finger auf die seiten treffen, die milchig
mimik schleiern, wie ausgelaufen, wie ein umgekipptes glas
an ihrem frühstückstisch, wie die scheibe die als linse ihrer tür
auf augenhöhe nur gesichter ahnen ließ, wie katarakt
sie fing mich in rechtecken, die sie einäugig aus den tagen schnitt
quetschte mich in weiße rahmen, verglänzelte die zentimeter
und manchmal sieht sie ihr gesicht in meinem spiegeln
und immer wenn sie blättert leckt sie die fingerspitzen an
der speichel letzten mals getrocknet, jetzt kleben die ecken
sie muss reißen um etwas zu sehen
benetzt von spucke die früher ihre stimme trug
sie hört nichts mehr
die lebensquadrate selbst stumm
nur betitelt in zittriger schrift
alles was sie festhalten wollte
gleitet ihr aus der schleimigen hand
gleitet hinter das milchglas der tür
gleitet solange bis
das einzige geräusch was bleibt knistern ist

resthitze

Lena Riemer
2002

die sonne brennt die blätter von den bäumen
ich fahre über die äste deines handrückens
deine haut ist viel zu kalt für mitte september


abendhitzespaziergang und der asphalt
glüht wie die restgefühle in meinen sohlen
trotzdem ziehe ich einen eisberg durch die wüste


es ist schon spät doch immer noch
tanzen so viele partikel zwischen uns
ein spöttisches flimmern in der hitze

ich küsse dir die poren aus der haut
und schenke sie der abendluft
bis da nicht mehr viel von dir ist

was bleibt ist zittriges flimmern
eine ungewisse zukunft infrage gestellt
doch noch ist es zu heiß um zu denken

come over when you’re sober pt. I

Ruta Dreyer
2002

Sieh die Lichter der Clubs (Die blassen Gesichter, eckigen Augen, die warmen
Hände) Und in den Lichtern: sieh die Dunkelheit Erzähl mir Geschichten wie du
weggelaufen Und nie angekommen bist Erzähl mir schreckliche Dinge
Ich habe einen Deal mit dem Teufel gemacht (Weil ich so Angst vor ihm habe macht
es mir Mut Wie ich mit ihm reden kann) Aber wenn ich jetzt alleine ohne ihn wäre
Wäre ich hoffnungslos
Und die fremden Ecken die du aneckst sind das deine neuen Schnittpunkte oder
deine alten Grenzen? Wohin treibst du dieses Mal (barfuß und vierhändig) Die
Erinnerungen hier an diese Lichter sind nicht die Lichter sondern ihre Gehäuse
Jedes mal wenn ich sie sehe bin ich wieder dieselbe Mücke
Die da entlang schwirrt
Ich laufe eine einsame Straße hinunter Nur eine weitere einsame Straße
Nach Hause Wen willst du jetzt hassen? Hast du nicht schon alles mal gehasst?
Wann war es am schönsten? Ich bin mir sicher
Dass wir diese Dunkelheit brauchen
Die Helligkeit ist so vereinnahmend

Ich werde krank davon, und ich möchte dich nicht traurig machen
Habe ich dich erschreckt? (Lil Peep)

Die Verleugnung der Humanität (als staatliche Institution)

Ronja Lobner
2002

ich vergaß ständig
in der nacht.
hatte mir die augenhöhle ausgekratzt
in der hoffnung dass sie es nicht täten.
 später.
 habe ich bereut.
das bereuen war der erste fehler.

ich vergaß das atmen
brüchiger reaktionsmechanismus_ sauerstoffumwandlung, (stigma)
 sowie umstände.
und irrtürme
gebaut
nur um darin zu zerfallen.
die strukur meiner:
  stimme! oder die illusion
sie wirklich besessen zu haben.
und im hohlraum: körper! voller hoffnung
splitterte
im moral_ vakuum.

da war: eine kniekehle überm brüchigen körper.
die kontrollinstanz des über ichs.
 ich kannte: diese verleugnung der humanität.
körpergefälle.
ich
als trümmerhaufen auf dem grund.

ich vergaß viel
in der nacht.
mein gewissen als auch: wissen
 relativierend. wechselwirkungen im endlosen.
da galt: keine regel
nur regelmäßig: nichts.
und: sie spuckten.
einmal.
und nochmal.
um sicher zu gehen.
ja, nur um sicher zu gehen.

ich vergaß viel
in der nacht.

später träten sie auf mich drauf, (hoffentlich)
später. verirrten sich in: scherben. auflösungen und: klirrenden stücken.
ich schnitte ihnen die fußadern auf,
damit fiele der irrturm.
doch das kam nie.
nie, nie. nie.

die nacht vergaß viel
von mir.
hätten die eulen mich nicht so betrachtet,
hätten die anderen es nicht einfach so hingenommen
wäre es leichter für mich.
(hätten die anderen den zerfall nicht einfach hingenommen, wäre es leichter für mich)

Schreibe, um zu träumen.