Unsere Gewinner*innen im August 2020

Wettbewerb im August 2020

In unserem August-Thema „als gäbe es schnee nicht“ mit Nico Bleutge ging es um die Wahrnehmung von Natur mit allen Sinnen, um den Rhythmus von Bewegung und Sprache. In euren Einsendungen beschreibt ihr das körperliche Spüren der äußeren Umwelt und auch innerer Empfindungen in ganz eigenen Worten.

Solange es Fußball gibt, haben Patrioten nichts zu befürchten: Gedanken schlafloser Nächte

Pauline Macholdt
2002

Übernächtigt beugen wir uns über den Felsvorsprung; der Abgrund ist bedeutungslos
solange wir schlafen.
Unsere Träume berühren uns erst kurz bevor wir erwachen.
Im Dunkeln hören wir die Wespen Gute-Nacht-Geschichten vorlesen.
Und plötzlich wissen wir,

dass Flughäfen ohne Spatzen sind wie Häuser ohne Muschelkalk.
Dass man immer erst über Kofferräume nachdenkt, wenn sie nicht groß genug sind.
Dass Spiegel sich nicht durch das verändern, was sie zeigen.
Dass Wellen oft genug nichts mit Wasser zu tun haben.
Dass Kriege immer auch eine Frage der Perspektive sind.
Dass wirre Menschen immer noch weniger verloren sind als selbstlose.
Dass die Kinder in Uganda auch verhungern, wenn wir immer alles aufessen.
Dass Süchte wie Holzleim sind für all die zerrissenen Menschen aus Sandstein und Glas.
Dass Bierkästen stapeln gesünder ist als Weinflaschen entkorken.
Dass Schornsteine kein Anzeichen von Zivilisation sind.
Dass Kompanten vielleicht gar nicht primär nach Norden zeigen, sondern einfach nur von Süden weg.
Dass wir selbst entscheiden, ob die Sonne uns blendet oder erleuchtet.
Dass Diktatoren auch nur Kinder sind, die nicht gelernt haben, dass „Bitte.“ ein magisches Wort ist.
Dass Kopfhörer Pseudonyme sein können, wenn man lange oder kurz genug darüber
nachdenkt.
Dass, wenn es den Sinn des Lebens ohnehin nicht gibt, jeder seinem Leben einen eigenen Sinn geben kann.
Dass Träume irrelevant sind, wenn wir sie träumen und erst eine Bedeutung bekommen,
wenn wir sie schon beinahe vergessen haben.
Dass all das uns den Fallschirm nicht ersetzt, den wir ausgerechnet heute Zuhause
vergessen haben.

Wir erwachen im Fallen, denn die Klippen haben uns die Freundschaft gekündigt.
Der Abgrund ist auch nur ein weiterer windiger Hafen.


Ich bin nicht traurig, ich weine nur.

ein kleiner dünner riss, durch den körper

Ruta Dreyer
2002

diesen schnee habe ich lange nicht mehr gespürt.
wie er auf meinem körper zerrinnt und unter die haut geht: in mich einkehrt, sich an meine äußeren fassaden anschmiegt, sich breitmacht und mich ausfüllt.

zuerst habe ich ihn an diesem märzabend gespürt, als wir über das balkongeländer fielen: im garten warteten die schneeglöckchen auf uns. als ich da aufprall, mir mit den handflächen die blüten unter mir aufstach, drang diese kälte zuerst in mich ein. ich zitterte mit meinen zähnen und legte steine zwischen sie, damit sie sich nicht gegenseitig aufschaben konnten.

das zweite mal war es im sandkasten deiner kleinen schwester: ich hatte angst vor ihrem kleid und versteckte meinen kopf zwischen den körnern. bis zur erdkante stieß ich, wo eiszapfen auf mich warteten und bis in meine ohrmuschel eindrangen. ob sie mein trommelfell zerstörten, weiß ich nicht. hören tue ich manchmal.

es ist das dritte mal jetzt und diesmal geht es von dir aus. wir sitzen wieder auf dem balkon und ich fühle die schneeglöckchen nicht weit unter uns. wir trinken wein aus großen gläsern, er ist kaltgestellt.

dieses mal ist es am intensivsten. ich erfriere von innen. diesen schnee habe ich lange nicht mehr gespürt, ich dachte er hätte mich verlassen. aber ich habe mich verlassen, ohne es zu merken. zwischen unseren füßen bildet sich der tau.

er schlängelt sich entlang, frisst auf.

Der Bruch von Regen

Janka Zündorf
2001

Die Gaslampe irisiert wunderlich, sie ist
nicht vorbereitet.
Leg dich in Schlaf, lass dich verkühlen, Metamorphose von Luft.
Man hört Partikel fallen, verbraucht, diffus…
Manchmal trifft mich Regen, seltene Schiebung
durch den Spalt, mach das Fenster zu,
schneide
die Wasserluft.
Eingelegte Schattenmorellen,
der Mond ist vorhanden, schau zu den Weiden, schau blauen Dunst
als läge darin
ein Nachtmahr. Spuren von Wind.
Es wurde heimlich asphaltiert.
Auf dem Vorfahrtschild liegt
ein Strahl Leere, als gäbe es Schnee nicht, als würfen Biegungen
keinen Schatten… geheime Versuchung…

Kein Schnee

Sven Spaltner
2000

„[…] Schnee ist ein Wort.
Es gibt nicht viele Wörter. Es gibt nicht viele, die nicht
bezeichnen, womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen.
Die nicht eins sind mit dem, was sie nicht bezeichnen, weil sie
damit eins sind. Aber Schnee ist ein Wort. […]“
(Ilse Aichinger: Schnee.)
Schnee nimmt sich Zeit. Er fällt nicht schnell. Schnee
ist bedacht, er verweilt nicht überall. Auf der Haut
schmilzt er sofort. Existiert schon nicht mehr,
wenn er einem in die Hände fällt, dort
wo er gerade war, ein Tropfen
Hoffnung vielleicht. Ein größeres Wort, das zu weit geht
und nichts bewirkt. Es reicht nicht, Hoffnung zu sagen.
Aber Schnee kann man sagen. Woran sollte man sonst
Kälte messen. Woran Weißheit. Man würde
Schnee vermissen, an den kühleren Tagen,
wenn man dann dem Gras zusehen muss.
Wie es über alle Sachen wächst, bis Bäume herausragen,
über die ich schweige. Im Norden
haben die Inuit angeblich viele Worte für Schnee.
Ob das alles Wörter sind, weiß ich nicht.
Aber Schnee ist ein Wort.
Spricht man es, flockt die Milch, die man eben
frisch in den Kaffee goss, auf der Zunge aus.
Sauer ist ein Wort geworden.

schädel aus glas

Lena Riemer
2002

da am fenster ein ganz leises trommeln so eingängig es könnte auch auf meiner
schädeldecke sein. und ebenso ein schädel aus glas gedankenzoo ständig zuwachs
ständig strömung. vielleicht ja ein fluss vielleicht ja wie in den städten der heimat so dreckig verseucht vielleicht auch ein strom durch den nur atemzüge wandern sein bett ganz still und schwach so wie wenn man nachts die müden glieder zur ruhe sortiert. ein absinken ins sediment so wie dein geruch in meine unterste hautschicht sank und bei abwesenheit ein phantomschmerz war so gräbt der atem schicht für schicht in den schlaf sein spaten sticht unermüdlich bis zur müdigkeit. ein vorstoßen in vorhöfe des himmels winzige prophezeiungen doch immer bleibt dieses trommeln in den hinterkopfhüllen leise erinnerung an eine welt so als würde sie für immer bleiben. und mit ihr die bilder mit jedem trommelschlag ein bild auf das andere gesetzt eine überlappung eine überlagerung ein phänomen du schaust mich lang an und nennst es schließlich leben.

POETIK RADIKALER FREUNDSCHAFT I

Ronja Lobner
2002

14.06, 13:12
Punktionen auf dieser durchschimmernden
blassen Haut, wie ein Taschentuch es zieht sich
über die Hämatome, denn Leben hinterlässt
Spuren auf dem Körper, hinterlässt
Füllwörter in unseren Kniekehlen,
eins davon ist Salbei
eins davon ist Polytoxikomanie, das letzte
unaussprechbar.
19.06, 02:45
Wir sind das Licht der Bengalos in unseren
Händen,
wir sind der Tinnitus im Ohr,
das wiedernichtsverstandenhaben, das Rauschen,
wir sind ein zerfließendes Stück Allgemeinheit,
wir sind das Methanol, das blind
macht.
08.07, 22:04
Dein dratiger Körper rennt orientierungslos in das Feld, du bist
dünner als ich gedacht hatte und
blasser
und dir wird schwindelig
Und du schwindelst mich an. In der Nacht
Schmeckt Hirse am besten, in der Nacht und
aus deiner Augenhöhle.
20.07, 01:33
Weil du aus der Fassung bricht weil du auf meine Schuhe brichst
weil du dich nicht an unsere Verfassung hälst,
weil wir allgemein nie und überhaupt in der Verfassung dafür sind weil
wir nicht verfasst wurden darin weil wir keine ganzen Menschen sind
sagst du:
Wenn wir uns jetzt einen Moment gut fühlen dürften, dann würden wir es tun
wenn.
01.08, 17:35
Du spuckst auf die Bilder im Museum, bis du siehst
dass sie unsere Gesichter ausstellen und wir finden
an ihnen nichts schönes oder einfach nur: nichts.
aber so ist das mit Leere sie bietet erstaunlich viel Interpretationsspielraum
das ist rutaesk.
02.08, 23:59
nur weil wir unsere Jugend aufschieben, wird sie nicht leuchten
sie vergeht einfach.
Du kannst alle Fragen dieser Welt stellen, nur auf eine kriegst du eine Antwort, aber du fragst nichts.
Nur dass –
03.08, 00:01
Spürst du die Rhetorik in meinen Erzählungen nicht oder warum tust du so als würdest du es besser wissen, nur weil du zwei Tage älter bist als gestern

Wir haben uns sehr über eure Gedichte gefreut und gratulieren den diesmonatigen Gewinner*innen Pauline Macholdt, Ruta Dreyer,
Janka Zündorf, Sven Spaltner, Lena Riemer und Ronja Lobner.

Schreibe, um zu träumen.