Unsere Gewinner*innen im September 2020

Wettbewerb im September 2020

Der Klimawandel hat lyrix im September umgetrieben: „Du kannst 40° nur sehr langsam begegnen.“ hieß das dazugehörige Monatsthema-Gedicht von Judith Hennemann, das die größte Krise unseres Zeitalters aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Auch ihr habt euch in euren Einsendungen der Zukunft unseres Planeten ganz differenziert angenähert. Da ist einmal von einem Leichentuch für unseren Planeten die Rede – natürlich aus Plastik! Mal wird ein Alptraum skizziert, der einem die Luft nimmt: „flach atmete ich brennende Milchtüten ein / meine Lungen füllten sich mit flüssigem Plastik“ Und letztendlich beleuchtet ihr nicht nur das Klima der Erde, sondern auch das menschliche Klima: „Und vor all der Kälte um mich herum zweifle ich am Schmelzen der Pole und vor all dem Starrsinn an den Wölbungen der Erde.“

spaziergang im industriegebiet

Rosa Lobejäger
2003

du schmeckst nicht mehr nach schnee
dafür nach saurem regen die
neue normalität sind
kohleminen
du rauchst seit neustem du hast
dreck unter deinen fingernägeln kleben
du schabst den mundgeruch aus dem schlund der fabriken
aus ihrem überhitzten rachen

lakritz bitter wie ihr lachen
krampf in deiner bauchspeicheldrüse
ruß in deinen eisenadern
in deiner chemikalienlunge du
hustest
deine alveolen platzen wie ballons

die kalte luft schneidet
die augen aus deinem gesicht
staubfänger für
kohlenstoffmonoxid
was auch immer bleiben sollte das ist es nicht
die raufasertapete
bricht
in den tunneln
staut sich das licht
bis es fast überquillt
die straßenlaternen
verwirren mich
eine mittelmäßige millionenstadt
der puls der zeit schlägt im schlund der fabriken mit
kalk verschlingt keuchend
die menschengischt
die kalten seitenstraßen lassen
quecksilber zwischen den fassaden
erahnen
mein naiver veilchenblick
entgleist fragend
hilflos hadernd
vogelperspektive hilft da
auch nicht mehr

ich hebe den blick der himmel
verdunkelt sich metamophosen
ziehen sich zurück
entspiralisieren sich
müllpartikel im meer sind mehr
als bloße moleküle
sie sind eingeschmolzenes dynamit
die ader auf meiner stirn kräuselt sich
wenn das wetter sich dreht
dann werfe ich den blick zurück
lasse ihn stehen; semikolon im menschenleeren raum

und fange ihn wieder auf
treibhauseffekt par excellence
demonstriert
schau
wir leben
eben im glashaus

und doch wichen so viele

Selin Eslek
2003

hier fließt heißer männeratem dampfend über verkrustete lippen der mutter; in ihrer armbeuge noch wiegend die wüste, der sie immer ähnlicher wurde – Gott ist der Vater der Tradition und die Tradition ist sinnvoll und erfüllend mit Licht und Liebe und Liebe ist nur richtig, wenn sie gerade verläuft.

aber das Licht, das berichtete einst von Farben und ihren Wellen, tief in Herzen gegraben, ein Zeichen für das Wasser, für das Land, auf dass sie Frieden schließen, genug Leben waren genommen. Hört ihr nicht?

Dass Gott doch eine Brücke über das Boot spannte, an der sich nun Plastikmüll verfängt und Häute ihre Blicke gen Himmel richten, sich vor euch zum Tod erklärend.

Und Gott sah, dass es gut war, sagt ihr. Und ihre Opfer waren ihm ein Wohlgeruch.

Hier ist der Beifang nicht mehr als bloß träumendes Tier, vom Bord der weißen Arche geplumpst; na wenigstens war es nicht ans Ufer gespült worden. Das verschreckt die Touristen nur.

Verstopf dein Herz mit verbrannter Erde und föhn dir die Tränen, babygirl.
Dir verläuft deine Kälte.

Und vor all der Kälte um mich herum zweifle ich am Schmelzen der Pole und vor all dem Starrsinn an den Wölbungen der Erde. Ich bin an ihrem westlichen Ende hinabgerutscht.

meine Sprache liegt zwischen Glaube und Widerstand im Wald vergraben.

somewhere in the rising oceans, there’s floating my blue corazón, indistinguishable from beer cans and cold bodies.

(give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free)

Euphoria/Schizoprhenia

Julius Ullrich
2002

Deiche brechen unter tausenden Kinderfüßen
Lager brennen, #PrayFor…
Selfie und man selbst sein, der Blick auf dem Tropfen
Aus digitalem Datenfall / Aus großen Augen
spiegelt sich Leid / spiegelt sich Hass
Deiche brechen unter tausenden Worten
#PrayFor
Sekundenschnelle Ereignisse erschüttern
gelähmte Synapsen / betäuben Betäubte
Eskalation normal und gewollt
„Sensationsgier“ befriedigt dich in der Nacht
allein nach rechts gewischt / allein ohne Bindungen
Angststörungen, ADHS und Autismus
Voll im Trend, früher gab es sowas nicht!
Weglaufen, wegrennen, woanders sein
Im Meer der tausend Klicks nur kurz vor den 1,5°
Deiche brechen unter tausenden ###
#PrayForHumanity
(h)yo͞oˈmanədē ?
Taumelnd durchs Leben, drohende Gebärden auf den Ohren
Küken, konzentriert gesammelt, giftiges Gas in der Lunge
Asthma, Migräne und Depression
Früher gab es sowas nicht!
Scheinwerferlicht im schwarzen See des Menschengrunds
Veränderung / change
for the Future / im Moment leben
Spiegelbild / Gesellschaft
Schuld / Vergangenheit
Leid / Menschheit
Deiche brechen unter tausenden
Aktionspotenzialen, Depolarisation und Hyperpolarisation
Nur die Refraktärzeit nach dem Orgasmus verschafft kurz Ruhe
Erholung am Sandstrand, der langsam überschwemmt wird
Plastik in Kinderlungen und toter Fisch im Bett
#PrayFor#PrayFor #####
Kathedralen in Flammen und Menschen auf Meeresgrund
Europa / blau / braun
Dunkles Orange im Vorhang des weißen Haus
Gift im Meer und der Charité
Nur eine Momentaufnahme
Morgen treibt der digitale Sturm weiter
Auf dem Meer der „unbegrenzten Freiheit“
#PrayForTheAmericanDreamAndCapitalism
#PrayForTheFutureAndLiveInTheMoment
Change! Veränderung! Am weißen Digitalisat für 1,50°
versagt, die Deiche brechen jetzt unter tausenden kollektiven Individuen
Uns geht es doch gut, früher war alles besser, ich darf doch wohl noch ###
Probleme? Kennt diese Generation nicht…
skitsəˈfrēnēə

Ich träumte heute vom Plastiktrinken

Ernad Bradaric
2003

In einem Mixer kamen Kekse Kühlakku und Sahne
die sich zerteilten in kleinste Teile
behutsam kamen Vanilleeis
geschmolzene Plastikflaschen dazu
Die Zutaten mischten sich zu einer Masse die
Ich schnell mit Appetit trank

Ich wachte auf mit einem bleiernen Magen,
dachte mich zu übergeben vom Alptraum
Schweißperlen krochen in die beängstigten Furchen
meines altgewordenen Gesichtes
Ich trank um mir zu helfen viele Gläser Saft und
Wasser das mich bei Sinnen halten sollte
Fenster wurden aufgerissen weil ich dachte
ersticken zu müssen in meiner erhitzten Wohnung
der Blick zum Park mit den Linden soll helfen

Aus den Fenstern aber sah ich nur einen Müllberg
explodierend vor den spielenden Kindern
die in Karton und Konservendosen untergingen
zu einem Teil des Plastikmeeres da draußen machte
Küsten mit Stränden aus Schutzmasken
versperrten mir die Sicht zur rettenden Luft
zu erklimmende Berge aus Bierflaschen
türmten sich vor meinen gierigen Augen
ich röchelte nur noch ganz schwach
Altpapier und Plastiktüten regneten jetzt
bewässerten die metallenen Palmen
erfrischten die Strohhalmblüten
füllten Bäche voll von Ammoniak
Mein Alptraum ließ sich nicht abebben
kein Platz für neue Luft
flach atmete ich brennende Milchtüten ein
meine Lungen füllten sich mit flüssigem Plastik

gewitter

Ruta Dreyer
2002

unter diesen Umständen regnet es
einsame Goldfische: wie sie fallen und auf dem
Tisch ihre Gedärme mir preisgeben, in den
Mundwinkeln ihre Scherben sich entschärfen, ihr
anmutiger Tod
manchmal denke ich, ich bin ein Schwein
niste mich ein im Dreck, wühle mit den Pfoten
in den Überbleibseln und bewundere die Goldfische
für ihre Leblosigkeit
als es Scherben geregnet hat, haben sie gesagt: wir
finden Porzellan in den Tränen
und haben mit Schwanzflossen um sich geworfen wir
fahren Autobahn in den Bergen aus Schuppen
bist du nun also auch ein totes Tier? oder eine
müde Annäherung, eine müde Geste der Anerkennung

ich sehe ein Zappeln, aber die Wolken
schieben sich vor den Himmel
die Goldfische können nicht mehr zurück
es ist still um uns geworden wenn wir an den Flossen
der Fische ersticken. sie haben aufgehört zu schwimmen

Für Baumwolle hat’s nicht mehr gereicht

Emily M. Scholl
2001

Zeit ist relativ, doch sie rennt, schneller denn je,
weiter denn je, ein wettrennen ohne zielgerade, spielen wir noch
im multiplayer-modus – oder sind wir schon allein?
Der widerstand nimmt zu, doch die physik
versagt – oder versagt der mensch?
Kind, stell‘ nicht zu viele fragen,
davon verstehst du nichts, doch scheinbar
mehr als ihr, (keine große leistung, übrigens), tick tack,
tick tack, in meinem ohr, zeitbombe?
kurz vor der explosion, ja, mutter, bomben sind tödlich,
aber nichtstun ist tödlicher, spielen wir schon
im multiplayer-modus – oder sind wir noch immer allein?
Und mein quadratischer taschenratgeber
in allen lebenslagen versagt, genau so dramatisch
wie wir, und du verkündest voll demut,
Kind, ich hab‘ uns ein leichentuch besorgt,
dann lache ich – zynisch, wie wir kinder eben sind – dem ende entgegen,
denn wir verstehen all das nicht,
doch vor allem lache ich,
weil das tuch nicht nur für uns ist,
sondern für einen ganzen planeten,
und weil es aus plastik ist – natürlich.

Ein Hoch auf die sechs Monatsgewinner*innen im September 2020!
lyrix gratuliert sehr herzlich Rosa Lobejäger, Selin Eslek, Julius Ullrich, Ernad Bradaric, Ruta Dreyer und Emily M.Scholl!

Schreibe, um zu träumen.