Unsere Gewinner*innen im Januar 2021

Wettbewerb im Januar 2021

Die ersten Gewinner*innen im Wettbewerbsjahr 2021 sind Selin Eslek, Anna Mistel, Patrick Seyfried, Thea Steimer, Sarah Stemper und Marlena Wessolek. Wir gratulieren euch herzlich! Die Jury hat eure Texte unter allen Einsendungen zum Januar-Thema „Was, wenn nicht jetzt?“ ausgewählt. Die themengebende Zeile stammte aus dem Gedicht „Es fehlte dies und das, aber Schlaf gab es noch genug.“ von Judith Keller. In euren Texten habt ihr Wünsche und Träume beschrieben, von Ein- und Zweisamkeit erzählt und Stimmungen zum Jahreswechsel in Verse gepackt. „Was wenn nicht jetzt? / Alles. // nach Matura / oder auch / post Corona“

in fallen schlieren wir.

Selin Eslek
2003

mutter besang die sterne
am tag deiner geburt.
es klirrten, wiederhallend
dein atem, ihr sehnen, dein stillsein, ihr flehen

als du hungrig wurdest, fürchtetest du, ihren blick vom himmel abzulenken.
also lecktest du heimlich die verirrten lichtfetzen vom fenster, die sich um deine lungenbläschen legten, dort versteinerten.

die steine in deiner lunge liegen schwer. zum schlurfen deiner schritte mischt sich ihr rasseln.

als kind wolltest du keine spielsachen. du rolltest dich nur immer wieder von rechts nach links, von links nach rechts, um dein rasseln zu hören.
noch heute, wenn niemand hinsieht, begehst du dieses ritual
wenn A. in der zeitung blättert, am frühstückstisch. auf dem boden des flughafens bei nacht.
hin und her wirfst du dich. immer wieder.

deine lunge knistert wie laub, wenn ich dich drücke. und wenn ich ganz genau durch deinen bauchnabel spähe, glänzt dein licht ein wenig wieder.          in schlieren fallen wir, enthäutet, schnuppengleich

was, wenn nicht jetzt

Jetzt warten wir darauf, dass es wieder von der Decke tropft.

Anna Mistel
2000

Im Herbst letzten Jahres erklärt uns Valentin auf einer Demo,
wie man mit einer Kreditkarte als Löffel zu Mittag isst.

Diesen Winter haben wir Angst
vor Nasen
und Händen
und Fingerabdrücken und öffentlichen Orten.

Einmalbesteck ist wieder modisch geworden.

4°C
ich bin am Baggersee und denke:
wenn ich diesen Winter schon mit niemandem schlafen werde
kann ich mich ja wenigstens mal für den See ausziehen.
Wenigstens ins kalte Wasser springen.

Die Dielen in meiner Wohnung wackeln in Dauerschleife
von meinem Bett aus betrachtet, wackelt die ganze Welt.

Hallo Ihr Lieben ich bin Madyyy

heißt es auf meinem Fußboden
bevor ich mit zwei Quadratmetern dunkelblauem Kautschuk kuschle
um mich:

weniger allein

und

mehr in mir selbst

zu fühlen.


Ich habe zweitausendundeinundzwanzig kaum betreten und rieche schon:
ich bin in einem Wartezimmer. 

Die Bilder hier sind unbedeutend bunt
der Kaffeeautomat kaputt
die Filterblase durchgebrannt.
Monat eins war da.

Ich sitze in zweitausendundeinundzwanzig
und mein Name wird nie aufgerufen.

Was jetzt geschieht, liegt nicht in unsrer Hand, wäre das auch eine seltsame Erwartung
denn es liegt auch nicht in unsrem Schoß
in unsren Armen
oder unsren Betten.
Schließlich lag auch da schon lange niemand mehr.

Wir haben heute Sauerkraut gemacht.

Meine Dozentin schreibt mir eine Mail, in der sie 2020 als Vorgängerversion bezeichnet.
Wie einen Opel oder nike Turnschuh.

Kann man mich gut hören?

Mein Plan für dieses Jahr heißt Aufbrechen.
Meine Dozentin sagt:
Wir müssen immer wenn wir Weltschmerz haben, ein bisschen vor der eigenen Tür kehren.

Putzplan: 22.01. Böden und Wg-Wäsche

Über mir hat ein Junge das Schlagzeugspielen entdeckt.
Manchmal würde ich auch gerne zuschlagen
und dabei eigentlich nur laut sein.

5,9 km. average pace 5.47. time: 34.20

Wartezimmer waren schon immer Orte, die mich auslachten
und höhnisch wieder ausspuckten
auf dieselbe Weise, wie ich schon immer ihre Zeitschriftenregale verspottete.

Pauline sagt: jetzt warten wir darauf, dass es wieder von der Decke tropft.
Währenddessen teilen wir nie wieder Zahnbürsten.

penguin huddle

Patrick Seyfried
2002

das alleinsein hat die farbe weiß. also nimm den blick
von den nichtssagenden wänden. lass kafkas trompete
erklingen und breche auf. was, wenn nicht jetzt?

lös dich von dem leeren schulgebäude. von unbeleuchteten
turnhallen und unbelebten restaurants. schab den rauhreif
von den dunklen fenstern und zieh weiter. querfeldein

an den kargen feldern vorbei und in den eisbedeckten
wald hinein. folge immerzu dem weg aus frost und firn
und lass die verschneiten bäume links liegen.

wenn dir die zugvögel nicht folgen, was soll’s?
deine gedanken sollen fliegen. schick sie einfach
in südsüdwestlicher richtung auf das packeis der

antarktis, wo sich die pinguine im pulk dicht
zusammendrängen und sich gegenseitig vertrautheit
spenden, nähe. nur zu. wünsch dich dorthin –

in den mittelpunkt der wärme.
ins zentrum der zweisamkeit.

die Überreifeprüfung

Thea Steimer
2001

Utopia, das Niemandsland
Unberührt von Menschenhand
Hawaii, Mallorca
Amsterdam
ohne Touristen
Venedig
mit Delfinen, Haien, Riesenkraken, Meerjungfrauen
Glitzernden Rinnsälen, die die Erde nachts überziehen
Von der ISS aus betrachtet
New York, London, Paris, Berlin

unnahbar plötzlich greifbar
nach dem Abi

Wenn du es besser wissen wirst, weil du es besser wissen musst
Wenn du es besser wissend fühlst, als Besserwisser auf den schwarzen Strand
einer einsamen Insel gespühlt
Gebraten auf Basalt
Hähnchenstücke in einer Plastiktüte

2001 Tiefkühlpizzen aufgetaut
nach dem Abi

dein Fernglas auf die Aufgabenstapel gerichtet
bald auf Gebirgsketten
mit dem Taschenmesser ritzt du die Tageszahl in die Tischplatte
bald schnitzt du Totempfähle
den Ranzen ausleeren
mit dem Überlebensnotwendigen füllen
Lektüren kommen auf das Lagerfeuer
Marshmallows braten

von deiner Haustür
bis nach Santiago de Compostela
nach dem Abi

an den Namen deines Cousins erinnern
Mutters neuen Freund kennenlernen
Vaters Tagebuch lesen
den verschollenen Bruder wiederfinden
Großmutters Demenz heilen mit Psilocin

mit einem Schimpansen schlafen
schwanger werden
nach dem Abi

Rekord im Schwerthaischlucken brechen
Shepard im Golf besiegen
Rückwärts auf den Kilimandscharo steigen
Barfuß die Arktis durchqueren

den Duden für Delfinsprache verfassen (in Venedig)
die vollständige Zahl Pi tanzen
Hass in seine neuronalen Bestandteile auflösen
mit Quarks Ping-Pong spielen

als Spindoktor
nach dem Abi

Al Quaida infiltrieren
die NSA beschatten
dem Verfassungsschutz Verfassungswidrigkeit nachweisen
die Anastasia-Sekte zum Islam bekehren

Seehofers Pass klauen
Putin mit seinem Freund fotografieren, in flagranti
Frauke Petry in ein Gewächshaus sperren

Tussauds Wachsfigurenkabinett in die Sahara entführen
nach dem Abi

die Quadratur des Kugelfisches
in Wolken baden
die To-Do-Liste
mit Gesichtern füllen

Was wenn nicht jetzt?
Alles.

nach Matura
oder auch
post Corona

die raketen schreien lauter als ich

Sarah Stemper
2001

ich beginne das neue jahr mit schlafwandeln, zerrissener partnerschaft und -leggings
die raketen gehen hoch
ist die stimme des patienten im nebenraum
schreit er sich wünsche lebendig
und ich schreie nach meinem inneren kind

flimmern tut es
nicht nur in meinem inneren auge
soll ich also eine zahl mit bedeutung füllen
wie das
sedierungen mehr meine augen füllen als leben hast du mitbekommen
oder
versteckt hier das krankenhaus-facetape meine personal-id

ist in deinen neujahresgrüßen nicht erwähnt
merkst du dass uns nur noch gifs verbinden
und abonnements in einer app im lila-ombre
dein mitgefühl ist genauso fake wie unsere fotos in beatles-pose

und die raketen gehen hoch
geht mein puls
es kracht
und ich beginne das neue jahr mit schlafwandeln, zerrissener partnerschaft und -leggings

belächelte _ versuche
mir mit meinen händen einen helm zu formen
nachts
im spiegel sehe ich nur leere und ernüchterung
zu oft
kotze ich sie ins klo
daneben

und auch zum neuen jahr weiß ich: schlafwandeln bringt nichts
die uhren ticken weiter
und manchmal braucht es nur eine stunde um hundert jahre älter zu sein

angestoßen wird mit milchkakao, obwohl ich laktoseintolerant bin.

Kondensiertes Nudelwasser

Marlena Wessollek
2001

Für den Frieden und die Freiheit
habe ich dir ein Manifest
nach dem Duschen
in die beschlagene Scheibe geschrieben
in den Schnee gepinkelt
an den Spiegel geküsst.
Es steht dort
in den Rasen gemäht
und an den Kühlschrank gepinnt.
Von dort beschattet es unsere Taten.
Während du jetzt im Kaffee rührst
blinzle ich dir entgegen.
Für den Frieden und die Freiheit
backen wir Zimtschnecken und laufen Eis
schicken dicke Briefe
fegen die Einfahrt.
Und das Manifest schwebt darüber.
Im Dunst unter der Abzugshaube manifestiert es rauchende Fragen
deren Antworten wir kennen.
Und obwohl es ein Manifest für den Frieden und die Freiheit ist
stellt es uns vor Verpflichtungen
dabei wollten wir doch frei sein.
Durch den Schornstein entweichen unsere Träume
und wir schleichen zweidimensional durch die Abzugshaube hinterher,
die uns einsaugt wie kondensiertes Nudelwasser.

Wir gratulieren den sechs Monatsgewinner*innen im Januar 2021: Selin Eslek, Anna Mistel, Patrick Seyfried, Thea Steimer, Sarah Stemper und Marlena Wessolek! Eure Texte gehen in die Jahreswertung 2022 ein.

Schreibe, um zu träumen.