Unsere Gewinner*innen im Oktober 2021

Wettbewerb im Oktober 2021

Herzlichen Glückwunsch, Zehra Cemre Arslan, Anastasia Averkova, Ruta Dreyer, Lara Klatzka, Eva Pogrebniak und Marie Stieglitz! Ihr seid die Monatsgewinnerinnen der Altersgruppe 15 – 20 im Oktober 2021! In diesem Monat ging es bei lyrix um Mehrsprachigkeit, ausgehend von dem Gedicht „çatodas“der Lyrikerin Dagmara Kraus. Welche Auswirkungen hat es, wenn Kinder mit mehreren Sprachen aufwachsen? Welche Geschichten stecken dahinter und was bedeutet es wirklich, wenn man mehrsprachig jonglieren kann oder auch muss? Eure Interpretationen des Themas haben die Jury und uns bewegt, beeindruckt, unterhalten und auch zum Nachdenken gebracht. Ihr habt von persönlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit geschrieben, von der Bereicherung, die es sein kann, „drei Welten auf [s]einer Zunge“, „3 perlen […] zwischen [s]einen lippen“ zu haben. Beleuchtet habt ihr in euren Texten aber auch die andere Seite, das Nicht-verstanden-Werden, das In-keiner-Sprache-richtig-zu-Hause-Sein: „Verstehen wird man dich nicht, also rede nicht. / Belächeln wird man dich, also rede nicht.“ Und letztendlich kann man auch „sprachlos“ sein, wenn man „nur“ eine Muttersprache hat: „schau ich: / wurde einsprachig erzogen / kann doch nicht sprechen“ Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen der Gewinnerinnentexte!

Çok konuşma kızım

Zehra Cemre Arslan
2002

Rede nicht viel meine Tochter, rede nicht viel.
Verstehen wird man dich nicht, also rede nicht.
Belächeln wird man dich, also rede nicht.
Anerkannt wird das nicht, also rede nicht.
Zwei von ihnen sind Pflicht, also rede nicht.
Die Sprache, die dich zu dem macht, was du heute bist,
diskriminiert dich, also rede nicht.
Kultur steckt in dir, also überleg es dir.
Traditionen stecken in dir, also überlege es dir.
Vielfalt steckt in dir, also überleg es dir.
Vielleicht sogar etwas Kulturerbe, also überleg es dir.
Ordunun dereleri, die Strömung Ordus.
Auf der einen die Gebirge, auf der anderen das Meer.
Vielfalt in einem kleinem Dorf, verschweige dies nicht.
In der Abendsonne mit Salz in den Haaren dich im Blick des Meeres verlieren,
Verschweige dies nicht.
Traditionen, die dich deine Großeltern schon lehrten, verschweige dies nicht.
Das schönste Geschenk, deine Wurzeln, verschweige diese nicht,
Konuş kızım konuş.
Rede meine Tochter, rede.
Diese drei Sprachen sind das Einzige, was du hast.

in fuge zwischen sprachen geschrieben

Anastasia Averkova
2003

ans licht kommen
появиться на свет
geboren werden

bin irgendetwas
便
flug und post
航空便で
verbinde
забинтовываю
gebrochene sätze
вырванные предложения
sätze, aus dem sprachumfeld gerissen
killed out of the context

muss fliehen
сверкаю пятками
glänze mit versen
wechselnden versfüßen
пока не споткнусь
bis ich stolpere über worte
till I stumble on words
bis zum umfallen
до падения
до дополнения
bis zusätze
extra sentences
entstehen

verbinde
забинтовываю
gebrochene sätze
предложения, которые вырываю
suggestions i throw up
werfe hoch, werfe vor
schläge
удары
beats
betonungen
auf das wort harmonie
ударения на слово сочитание
schlage die wortverbindung auf
turn to expressions
werde zu ausdrücken

ich kehre nicht zurück
i don’t sweep it all back
не мету языком
не мету язык
säubere nicht meine sprache
my accent
meine akzente
которые я ставлю
die ich stelle
bis sie sitzen

бинтую
verbinde
broken sentences
sätze
zu gebrochener sprache
ломаный язык
zungenbrecher
my accent
meine akzente
которые я ставлю
die ich stelle
und mich unter stress
be stressed
betonung gesetzt
emphasized

ich kehre nicht zurück
i don’t sweep all back
kehre nicht den rücken

говорит:
go!
sagt!:
I

five
steps
сверкаю пятками
glänze mit versen
und holprigem metrum
irregular meter

me

eye
ich
то есть: мой язык
sprich: meine sprache

to stress
betonungen setzen
ударения падают
schläge, fallen
ударения на слово сочитание
schlage die wortverbindung auf
open verbal ties

to stress
betonungen setzen
ударения падают
schläge fallen
und schüsse
muss fliehen
бежать
run
ich renne
сверкаю пятками
glänze mit versen
wechselnden versfüßen
пока не споткнусь
bis ich stolpere über worte
till I stumble on words
bis zum umfallen
till the fall
schlage die wortverbindung auf
bruise my phrase
vérsett van
bis sie blutet
till i’m bleeding
vérset
bis ich dichte
изливаю душу
verschütte meine seele
bury my soul

say

leben
to be live

говорю с акцентами
spreche zwischen zungenschlägen
speak between the beats of mother
tongues
spreche zwischen schlägen
spreche zwischen sprachen
до мозолей на языке
bis meine sprache blasen kriegt
till my speech gets bubbles
bis ich sprechblasen kriege
 


航空便で
per luftpost
posted by breath
ich flüstere
ささやく
japanese: whisper
stille post

der sprache
übergebe ich mich
вырываю
reiße heraus die sprach
phänomene
phenomenons
и склеиваю
und verklebe
eine collage

die sprache der gurken

Ruta Dreyer
2002

schau ich:
wurde einsprachig erzogen
kann doch nicht sprechen
bin teil einer auflösung
bin teil einer aufgabe
schau ich:
bin eofiqefüoiefj

durch die lücken meiner finger
schaue ich auf tasten
das h
das a
das e
macht mir angst
was mache ich mit ihnen

mein liebling
ist die leertaste
ihr ton wenn ich drücke
ist die zeit die ich habe
um zu denken
sie gibt nach
unter mir
sie weiß
ja wir brauchen diese pause
nur sie weiß das
sonst niemand

wenn ich gurken sehe
denke ich
das ist mehr sprache
als alles was ich tue
ziehe decken über bücher
ich schlafe mit den büchern
kriege albträume
gehe schlafwandeln
in ein gurkenglas

schau ich:
bin überfordert
mit dem was ich habe
und es würde nichts ändern
hätte ich mehr sprachen
hätte ich weniger sprachen
ich wäre trotzdem nur
dfhqdiufhqoifhqofuhfuqufq
UND SO FUCKING NEIDISCH
AUF EIN GLAS GURKEN

welche Sprache ist *dein Lachen*?

Lara Klatzka
2003

mein Kind

schiebe dich durch kastig-kantige deutsche Schachtelsätze, schramme dich an den harten Ecken der Sprache deiner Heimat, deiner Gedanken, stolpere durch die abrupten Lücken jener gebellten Jugendwörter

durch die kristallklare, englische Grammatik tauche du, man kann bis auf den Grund sehen, das r rollt über dich hinweg, es perlt auf der Zunge, fließt im Mund und kribbelt hinter der Stirn, kleingedruckt und schnörkellos

die Sprache deiner Ahnen, Polnisch, dir in den Knochen sitzend, in Fleisch und Blut, stößt sanft gegen die Vorderzähne, quillt durch deinen Rachen in die Nasennebenhöhlen, hier und da unerwartet spitz, als die Worte umständlich aus dir herausbröckeln

deine Stimme ist uneins, manchmal fremd, du suchst sie und du findest sie nicht immer, dreigeteilt ist dein Sprechen, dein Kopf, bist du?

zerpflückt dein Sinn, verwirrend deine Rede, drei Welten auf deiner Zunge, irgendwo dazwischen du selbst

aber, Kind, 

deine Augen sind dieselben, der Glanz darin, wenn du auf Deutsch liebst und auf Polnisch singst, und deine leidenschaftliche Wut, wenn du auf Englisch diskutierst

welche Sprache ist *dein Lachen*? 

und dein Zorn, ist er eher deutschen oder polnischen Ursprungs? das Glück, das dein Gesicht erhellt, englisch? 

da wird klar, dass du ganz genau weißt, wer du bist, wie du sagen willst und was

du kennst bloß mehr Pfade, um deine Gedanken in die Welt hinauszuschicken

lass sie frei, fearless, dumny

Wir und unsere Worte

Marie Stieglitz
2006

Wir stehen von Ansprüchen gefesselt am Rand der Welt.
Dein Mund geht auf, schließt sich wieder, 
Messer, Trauer, Schreie, Wespen schwirren aggressiv heraus, das meiste in mein Ohr hinein, doch
Das Herz und die Träne, irgendwo zwischen merde und skítur versickern im Rasen neben dem Bordstein.

Hast du gedacht, gehofft, geträumt endlich den Ausdruck gefunden zu haben,
Endlich den Weg gemeistert zu haben,
Endlich verständlich zu sein.
Drei Sprachen sind zu groß für deinen Mund
Und so taumelst du zwischen Akkusativ und Subjonctif irgendwo zwischen chinesischen Teezeremonien.
Und in deinem Kopf – ist mein Kopf – ist unser Blatt – ist Leere.
Die Stimmen schreien, quietschen, kreischen, zischen dir ein Sirenenlied des Selbstvergessens, der Unsicherheit zu.

Verunsicherung
Verwirrung
Verstummen

Drei Sprachen sind zu groß für deinen Mund.
Du kannst nicht stehen bleiben, keine Konstanten entdecken. 
Immer auf der Suche nach dem einen Fels in dem Meer aus Worten, der sicher ist, der deins ist.
Und so schwingst du dich auf ein dünnes Seil aus Sätzen, die du wirklich brauchst,
Und balancierst schweigend in Münder nach Mündern, auf dem Weg zu diesem Felsen im Nebel.

Wir sind eckige, unbehagliche Formen,
Der Mund verzerrt und viel zu groß,
Kopfschüttelnd betrachten wir das Drama der Worte – wunderschöne Herzensbrecher.
Dann nehme ich dich an der Hand und wir lassen unsere Zungen die Stille schmecken,
Denn egal wie viele Sprachen einen Zaun aus Floskeln bauen,
Freundschaft braucht keine Worte. 

Schreibe, um zu träumen.