Unsere Gewinner*innen im Dezember 2021

Wettbewerb im Dezember 2021

„Es wird ein Jubeln und ein Singen und Schreien und Grölen sein und nie wieder wird man sie zum Schweigen bringen können.“ Unsere sechs Monatsgewinner*innen der Altersgruppe 15 – 20 zum Dezember-2021-Monatsthema „Das Schweigen belichten“ stehen fest! Herzlichen Glückwunsch, Anastasia Averkova, Rosa Lobejäger, Ronja Lobner, Lena Riemer, Michelle Schreiber und Mathis Vogtmann!

Aufgerufen wart ihr in diesem Monat, das Schweigen zu belichten – ausgehend von einem Gedicht des Lyrikers Alexandru Bulucz. Wie sieht Schweigen eigentlich aus? Welche Facetten hat Schweigen? Kann man überhaupt schweigen? All das haben wir euch gefragt und waren gespannt, welche lyrischen Worte ihr für das Phänomen des Schweigens findet. In euren Einsendungen habt ihr „in verschiedenen Sprachen“ geschwiegen, „zersprochene scherben“ unter den Teppich gekehrt, euch schweigend gegenübergesessen und euch aus eurem Schweigen geschält wie aus einem „kokon aus alten zeiten“. Viel Spaß beim Lesen der sechs Gewinner*innentexte! Und danke für all eure Einsendungen im Dezember 2021!

geschweige denn

Anastasia Averkova
2003

du stopfst ihren Mund
aus / bildest
Biapikale / raust
ihren Gaumen auf
mit deiner Zunge

ihr r überrollt dich
wie eine koronale /
coronale Welle

du zwingst ihre Zunge
an die Uvula,
bis sie bricht – sie bricht
ihre Worte / sie bricht
in Worten aus,
Anklänge an ihre
Mutter / Sprache

du reißt Worte
aus ihrem Mund / beißt
dich fest an
deiner Beute

du gehst sie an / lässt
sie angehen, das
glaubst du wirklich

du gräbst ihre Magengrube
auf, legst dort Motten

du legst dich auf –

dir hängt da noch
ein Stück Satz
zwischen den Zähnen

sie erstickt an ihren
Worten / du erhängst sie
an ihren eigenen Lippen

du wanderst an ihren
Schmerzensgrenzen / sie
verschweigt die ganze Zeit,
ihre Erinnerungen an eine
Heimat / ein Schmerzland

sie hat sich verlassen, du
hast dich verstanden

sie wirst du nicht
verstehen / wir schweigen
in verschiedenen Sprachen

lidschattenländer

Rosa Lobejäger
2003

deine netzhaut krümelt blätterteig du schälst dich aus deinem schweigen deinem kokon aus alten zeiten ich wickle dich ein in heimeligkeit du nistest dich zwischen meinen schulterblättern ein und fragst ob du dort bleiben kannst ich

trage dich durch gassen durch lichter du bist mit misteln behangen schmiegst dich in mich ich öffne dich deinen zuckerguss du schmilzt in meinen armen ich weiß nicht was ich sagen sollte mein mund schluckt die kälte aber gefriert auch dabei wassereis

im tiefsten winter ich lache mit dir über dich es perlt aus meinem mund wie keramik das kann auch nur dein schnee sein dein kräuselband du hältst mich fest am blassen arm ziehst schicht für schicht die seide aus der raupe hyazinthen aus zwischenräumen blinde tränen ich

taue schon wieder du sezierst und kittest mich lücken fügen sich zu dickflüssigen prismen in rotweingläsern lippenränder, frostbedeckt flüstern von der toten raupe nächte, in denen du mich trägst in lidschattenländer

Jeden Morgen

Ronja Lobner
2002

Wir. sitzen. uns. also. gegenüber.

Das Anlecken der Finger bevor Papier sich wellt. Wie geht’s dir eigentlich? Mundwinkel, die sich zusammenziehen. Selten ganz gut. Etwas räuspert sich. Das ist ja ein Fortschritt. Irgendwas bahnt sich an. Ab und zu habe ich das Gefühl ein Unwetter in mir zu haben. Etwas liest den Kaffeesatz. Ab und zu habe ich das Gefühl, dass er dann auch ausbricht, wenn ich spreche. Lippen setzen zum Trinken an. Also, dass die Worte und Vorwürfe darin aufwirbeln, dass sie im Hals stecken bleiben und dass dann alles weh tut. Eine Spüle wird betätigt. Aber das kennst du ja, so bin ich halt. Die Entfernung wird überkompensiert. Du meinst, ich habe das von Mutter. Ein Runterschlucken. Und sonst so?  Eine Hand greift nach meinen letzten Resten. Ja weißt du, da passiert viel in meinem Kopf, in den Tagen und Minuten dazwischen. Ein Hochwürgen. Ich gehe Tanzen. Zwei Körper geraten aneinander. Also. Dann bin ich kein Mensch mehr, sondern irgendeine Welle, ein physikalisches Konzept, mehr als die Wirklichkeit. Butter wird auf einer Brötchenhälfte verschmiert. Ja, ich nehme Drogen. Ein Herz brüllt in einer Brust. Ich bin verantwortungsbewusster als du denkst. Ein Stuhl verrückt sich. Seitdem ich aufgehört habe, Dinge zu erwarten, lebt es sich deutlich leichter. Das Verknoten von Schnürsenkeln. Oh, du musst schon gehen? Da steht halb geleerter Kaffee. Vielleicht magst du morgen mit mir reden. Die Autos zwitschern.

irgendwas ist

schiefgegangen

In die Wälder

Lena Riemer
2002

Der Wald steht schwarz und schweiget.

Ähnlich zwei Bäumen verwurzele ich meine Beine im Asphalt. Durchtrieben von der Hoffnung, dass mein Haar bald Geäst sein wird und mein Fleisch eine krustige, harte Rinde, in die kein Mann je wieder packen will. Schweigen muss ich doch so oder so, egal ob Frau oder Baum, da gibt es keine Stimme, die gehört wird.

Und aus den Wiesen steiget.

Eines Tages werden die Frauen in den Wald gehen. Sie werden ihre Füße auf den Boden stampfen und zu Bäumen werden. Sie werden sich über ihre Pheromone Liebe schenken und wenn ein Mann kommt, eine von ihnen zu fällen, dann wird man ihre Tränen harzig an der Rinde kleben sehen. Es wird fast wie früher sein.

Der weiße Nebel wunderbar.

Aber die Vögel werden in ihnen nisten und die Insekten werden sie durchströmen und es wird ein Meer des Lebens sein. Und es wird laut sein, so laut wie es die letzten tausend Jahre nicht zwischen Frauen war. Es wird ein Jubeln und ein Singen und Schreien und Grölen sein und nie wieder wird man sie zum Schweigen bringen können.

sprachscherben

Michelle Schreiber
2002

zwischen dir und mir klirrt es
wir fegen die zersprochenen scherben auf
und kehren sie unter den teppich zu unseren füßen
unser verhältnis liegt diesem teppich zugrunde:
wir gehen auf zerbrochener sprache

einst sprachen wir dieselbe
mama, erinnerst du dich?
mit einem stift zeichnetest du meine ohrmuschel nach
träufeltest du dein vokabular in meinen gehörgang

heute zerspricht sich meine zunge
an der muttersprache sie zer-
birst, ich ziehe mir die split-
ter aus der gaumenhöhle
reihe sie aneinander
hebe sie mir auf;
später
werde ich sie unter den teppich legen

sieben sprachen liegen unter deiner zunge
unter der last deiner herkunft bre-
chen die silben zusammen, sie
klingen nach zuhause

eben klirrte es
nun stehen wir uns gegenüber
und kehren auch die stille
unter den teppich

à la carte

Mathis Vogtmann
2003

mir war nicht anders, als ob mein herz
recht angenehm verkomme
zur ersten schwelle meiner angst
zur narbe meiner stimme

mein laut stirbt ab, bevor er blüht
ich klebe meine lippen
an hartes holz, ich beiß mich fest
im blut friert ein mein schatten

wie spiegelt alles das den wahn
zu fühlen und berühren
wer nähert sich den toten an?
kein mensch, warum dann leben-

den menschen mehr zeit zugestehn?
das heißt nur neues bluten
und harz aus narben, rinde fällt
in schuppen von den knochen

ich stell mich aus, ich sterbe laut
in atem, nicht in worten
die sind schon lange, lange fort
und können nichts –

Schreibe, um zu träumen.