Unsere Gewinner*innen im März 2021

Wettbewerb im März 2021

Im März ging es bei lyrix um das Großwerden und Bilder, die wir uns in diesem Zusammenhang von uns selbst, aber auch von anderen machen. Wir haben euch gefragt:Wem steht vermeintlich die Welt offen? Wer ist in, wer ist out? Inspiration gab es von Anja Kampmann und ihrem Gedicht „in meiner klasse“. Eure Texte haben sich dem Thema vielseitig genähert. Ihr habt den Aspekt des Wachsens aufgegriffen, „dachte // das verwächst sich“, und von euren eigenen, ganz persönlichen „wachstumsschmerzen“ geschrieben. Aber auch die Erwartungen anderer habt ihr in den Blick genommen und das, was scheinbar gerade gesellschaftlich erwünscht ist: „wir könnten alles machen und mit alles meine ich studieren irgendwas mit Geld, während das Bier weiter fließt in die gefüllten Bäuche im Rhythmus des DJs sponsored by papi.“ Wem steht hier wirklich die Welt offen? Viel Spaß beim Lesen der sechs Gewinnerinnengedichte im März 2021!

Scham

Linnea Gehlert
2000

Auf den Zweigen eines Baums
so alt wie ich, saß ich wacklig.
Ließ Essen neben Teller fallen
wie Tassen an müden Tagen,
dachte:
Das verwächst sich.

Auf dem Feld rannte ich immer
und länger dem Ball hinterher.
Stolperte und fiel in die Kratzer
bis zu Narben beider Arme,
dachte:
Das verwächst sich.

Saß beim Arzt, der mich maß,
der mich Flure ablaufen ließ.
Trug Elektroden in den Haaren
und Orthesen an den Füßen
und man sagte:
Das verwächst sich nicht.

Und ich wuchs ohne ver-.
Kleckerte, stolperte, rannte,
fiel, noch mehr auf Arztfluren.
Heute weiß ich: wie ich bin
ändert sich nicht mit dem Alter,
denke:
Nur die Scham verwächst sich.

Wie ich mein Gestern zudeckte

Laura Gerloff
2001


In dieser Nacht ist niemand
Doch haben sich alle versammelt,
Aufgestellt wie Nackenhaare.
Um dich stehen die Birken um dich
Vor den Minen zu warnen
Die eben noch Wurzeln waren.

Und als du das letzte Mal
-so richtig-
Gefroren hast, da war es jetzt
Auch schon wieder vorbei
Um dich Birken
und unter dir
Wurzeln
Eine halbnackte Wiese
Ihre aufgeplatzte Haut
Gespickt mit hölzernen Signalen
Heute störst du sie nicht.

In der morgigen Nacht
Werden die Minen nicht explodieren.
Auch nicht in der darauffolgenden
Und wohl auch nicht in der danach.

Und als du das erste Mal
-so richtig-
Geatmet hast, da war es Winter.
Da hat dich das Glatteis über etwas stolpern lassen
Das warst du
Und du lagst im Schnee
Mit dem Kopf nach unten,
Weil dich dann niemand hören kann, wenn du schweigst
Weil niemand hört, wenn du schweigst
Weil dich niemand hören kann
Weil du schweigst.

In der gestrigen Nacht
Hätten die Minen, die du so gut umgehst
Um nicht mit ihnen umzugehen
sich dir gern geöffnet
Doch in dieser Nacht ist niemand.

schieß dem Zweifel ins Knie

Lara Klatzka
2003

auf der Parkbank flossen deine Tränen
bis die Regenwürmer unten ganz besoffen waren
du stecktest fest, denn plötzlich warst du frei
die Zukunft war der Himmel und doch spürte man Fesseln
und der Himmel war auch nicht grade herzlich und einladend
Schäfchenwolken waren heute bedrohlich, weil sie ein Gewitter verstecken konnten
schieß dem Zweifel ins Knie, kauf dir ein paar Träume, sagte ich lässig
dabei hatte ich selber mächtig Angst vorm Ausrutschen und gleichzeitig auch vorm Stehenbleiben und außerdem konnten weder du noch ich irgendwelche Träume bezahlen
du spürtest die Leere meiner Worte und lächeltest trotzdem
irgendwie war das ja auch lächerlich, dass man Erklärungen brauchte, die es nicht gab
und trotzdem
während wir früher die Mitte des Raumes suchten, um Platz zum Tanzen zu haben, lehnten wir uns jetzt lieber an die Wand
wozu die Freiheit, fragte man, als es uns nur noch in die Ecken zog  

papa stolz machen

Elisa M.
2001

Und sie mit ihrem langen Pony tanzt in der Mitte
eine Zigarette zwischen ihren blauen Lippen
Ihr hässliches Gesicht
aufgedunsen von der Kälte, rote Wangen,

süßer Wein, weil wir jetzt erwachsen sind,

doch des Wodkas reine Seele nicht vergessen haben, wie wir lachten reflexartig als würde es uns glücklicher machen, als wäre das hier die Ewigkeit und nicht nur ein Zwischenstopp zwischen papakind und papasein,

als wären wir frei, gefärbte Haare – blond, nicht blau-, gras und nackte haut, wir könnten alles machen und mit alles meine ich studieren irgendwas mit Geld, während das Bier weiter fließt in die gefüllten Bäuche im Rhythmus des DJs sponsored by papi.

Doch auch leere Küsse werden irgendwann laut, Herzen gestapelt im Trophäenschrank des lokalen Tennisclubs, gleich neben den kurzen Röcken, eine Einladung zum Spielen. Ein Mona Lisa Lächeln ertränkt die Tränen auf den Lippen. Denn die Kreise schließen sich und Bedeutung wird nicht gesucht, sondern gefunden zwischen weißen Papers und Levis Jeans in Freundschaften, die für immer halten, hier in der Zukunft der Vergangenheit.

Und er mit der Lederjacke tanzt in der Mitte,
Ein Glas in der zittrigen Hand, hatte vor Jahren mir versprochen,
er werde glücklich, ohne Geld und ohne Schein,
jetzt studiert er in München und fingert Wirtschaftsprüfer.

wachstumsschmerzen

Lena Riemer
2002

da war rasierwasser, vor allem auf deiner haut.

da fiel ein satz im frühling auf den asphalt einer handwachshalle und schlug dort wurzeln und die triebe folgten in sekunden. da war ein bordstein da war übelkeit da war der freie fall da war ein schwerer atem.

da waren risse, in deiner und meiner haut.

da aß mein körper sich selbst und wuchs und jede zelle wurde noch einmal gespalten und die membranen wurden undurchlässig. da war ein zucken da war autonomie da war mein wutbauch da waren wachstumsschmerzen.

da waren gänsescharen, die trippelten über meine haut.

da konnte ich-packe-meinen-koffer kein spiel mehr sein und ich wuchs selbst noch als die nahrung nur den rückweg einschlug und ich staunte. da war veränderung da war ein prozess da war angst da war mut.

später werde ich gestorbene jugendtage wachweinen

Sarah Stemper
2001

die zukunft setzt zum gähnen an
‚meiner brille beschlagen die aerosole
schweben nicht wenn du schreiend spuckst stechen sie
sensibilität in meine dünne haut

in der klasse nannten sie mich t-rex, weil ich menschen anschrie,
weil du mich anschriest

das noch vor der ersten stunde des (schul)tages
schaue ich mir ein polaroid an
seinen rändern rinnt die farbe herab
auf meine fingernägel, auf meine stressaufkratzhaut
die farbe rinnt weil ich lieber draußen nachdenke
wenn es regnet
und die farbe rinnt
meine haut & augen haben keine filterfunktion

so geht es auch den anderen
bleiben nur die dinge die ich filtere erspart: das lernen
sie büffeln aber die wenigsten lernen
dass es weh tut: das sterben meiner jugendtage an den abenden
was nicht war werde ich versuchen wachzuweinen, später

war ich außenseiterin, weil ich respekt vorm leben hatte
       zuhause –

war eine sozialarbeiterin, die erzählte mir vom leben
von dem wie ich nicht leben wollte
hatte ich mehr ahnung
als andersherum (?)

und die zukunft gähnte, weil die dinge stockende schallplattennadeln waren

Wir gratulieren herzlich Linnea Gehlert, Laura Gerloff, Lara Klatzka, Elisa M., Lena Riemer und Sarah Stemper!
Ihr seid die lyrix-Monatsgewinnerinnen im März 2021!

Schreibe, um zu träumen.