Unsere Gewinner*innen im Juli 2021

Wettbewerb im Juli 2021

Herzlichen Glückwunsch an Ernad Bradaric, Ruta Dreyer, Rosa Lobejäger, Ronja Lobner, Lena Riemer und Anna Thommes! Ihr seid die Monatsgewinner*innen im Juli 2021 und eure Texte gehen in die Jahreswertung 2022 ein. Geschrieben habt ihr zum Thema „Eintauchen (Tunken)“, das inspiriert war von einem Gedicht der Lyrikerin und Künstlerin Lisa Goldschmidt. In euren Texten zum Thema habt ihr ihre Mischung aus wissenschaftlichen Definitionen und intimen Momentbeschreibungen aufgegriffen, ihr habt mit den Begriffen „Eintauchen“ und „Tunken“ gespielt oder auch Lisa Goldschmidts beschriebene Momentaufnahme weitergesponnen. Ganz unterschiedlich und vielfältig habt ihr euch dem Thema angenähert. Eure Ideen haben uns sehr viel Vergnügen beim Lesen bereitet und das wünschen wir jetzt auch euch beim Lesen der sechs Gewinner*innentexte!

Ich tauche nicht mehr auf

Ernad Bradaric
2003

Wer sagt,
dass die Möwen auf den Autodächern nicht fliegen können
in Marseille sind Verkehrsregeln egal
fliegen
über den Gebetsteppich auf der Straße
neben der Universität

Sie beten, sie lernen
Ich schaue auf die Dächer
weiter über den Autos
ein Taubenschlag, weiße und graue und schwarze
mein Sammelbecken kennt keinen Boden

Sehen wie die U-Bahn im Schatten verschwindet
Das ist was bleibt, außer dem Privatzimmer
neben der Sagrada Familia
im Aufbau wie meine Umgebung
wie die Tauben in meinem Kopf

Wer sagt,
nach Mitternacht kann ich nicht mehr in die Metro
stecke die Kopfhörer in die Unsicherheit
den Münzbecher des Beinlosen in ein Gebet
will nur Türme schauen gehen
aus Sandstein und saurem Regen

Der Vermieter mit seinem kleinen Radio
Rockmusik, ob ich die auch so mag
aber ich versteh kein Spanisch weder elektrisches Rauschen
ohne Hemd oder Shirt steht er neben uns
dass es uns doch hoffentlich gut geht
jetzt nicht mehr

Doch immer ist es ich selber
Regenschirme in den Zügen vergessend
in den Tag kommend
wenn er den Tunnel verlässt
und mit ihm der Rest den ich anband
in den Jahren in denen ich nicht vergaß

Synästhesie

Ruta Dreyer
2002

wir rauchen folgende Formen:
Kreise, bunte und sinnlose.
zerspringen am Asphaltrand, der Bettkante
und der Unterhose deiner Mutter.
Mädchen, hast du einen Kopf oder einen Ballon?
: eintauchen will es in sich selbst
               in einer fernen Oszillation
kannst du ein Teil werden?
oder bleibst auch du ein gestrandetes Stück Papier.
hast du eine Oberfläche und
hast du
?

vollkommen übertrieben. vollkommen unnötig
schlägst du Wellen hier, schlägst dich auf an den:
angezäunten, eingezäunten Vorkehrungen.
minutiös angebahnt und einkalkuliert jeder
Versuch eine Welle zu werfen.
wohin willst du fließen?
hast du eine Richtung, hast du ein Ziel?
in den Dissoziationen spiegelt sich
ein Vorwurf:
Junge, was hast du mit dieser Welt gemacht?

sie berühren den Asphalt und
er zerspringt in tausend Scherben
Fallen in die Tiefen hinein
was lässt sich hier finden außer
?

 

goldfische

Rosa Lobejäger
2003

ohne himmel bist du gewachsen du warst kühl und ich war müde als wir das erste mal getaucht sind im schmalen grat zwischen sommer und winter

das schwarzlicht schmilzt auf deiner zunge die hitze schiebt sich zwischen uns wir sind frisch gegossnes glas das sich umschlingt warten: auf den siedepunkt bis die sonne implodiert oder die goldfische in unseren augen kollidieren

I. fluoreszenz: spontane emission von licht; fast ohne nachleuchten

das schwarzlicht wird zum schattentheater die goldfische winden sich in deinem blick deine worte sind leeres rauschen für mich zwischenräume die wir nicht füllen konnten mit zellophan bedeckt

ohne himmel bist du gewachsen du bist getaucht in fremden gewässern und augen du hast so viel licht getrunken jetzt bist du selbst nicht mehr als ein goldfisch ein blasser schatten deiner selbst ein sonnenfleck

und ich, ich sehe wie klein deine welt geworden ist seit du nur noch kreise ziehst die zeit hin und herschiebst in der dichteanomalie ich betrachte dich von allen seiten durch das aquariumglas bis die kälte in meine knochen kriecht und das letzte nachleuchten verglüht

sich verlassen (muessen)

Ronja Lobner
2002

Gen·t·ri·fi·zie·rung

/Gentrifiziérung/

Substantiv, feminin [die]SOZIOLOGIE

Aufwertung eines Stadtteils durch dessen Sanierung oder Umbau mit der Folge, dass die dort ansaessige Bevoelkerung durch wohlhabendere Bevoelkerungsschichten verdraengt wird-

ich habe mich zu einem paeckchen gemacht nicht mehr als ein paeckchen, zum in-sich-zusammenknuellen wo kopf an fuß und nase an knie zwischen unsauberen raendern liegt.  habe mich selbst abgeschickt in einen anderen zustand –

ich habe mich verlassen, aus dem eigenen wohnkoerper ausgezogen. neue stille, reize laerme. das war ein ausbrechen oder ein ausbrechen muessen-

grenzen ziehen, weil wir grenzen ziehen muessen damit wir nicht alle eine große menschenmasse werden, die klebrig verheddert durch die großstadt zieht und die vertauscht wird mit dem eigentlich verstaendlich wichtigen –

mit dem neuen koerper an falsche koerper geraten, an falsche koerper geraten muessen, die atemrichtung klauen, das stetig steigende gefuehle zermuerben. waehrend der rhythmus des eigenen atems sich veraendert, die gefuehle gegen fakten abtauschen + dich dann ein beduerfnis nennen oder ein zuhause?

seitdem ich in den neuen waenden vor mich hingammle, seit dem der blick aus dem vierten stock geht, seitdem mein koerper von der anderen seite in die welt kriecht– seitdem weiß ich, dass die welt immer gleich bleibt, dass sich nur die blickrichtung auf die straße aendert und die menschen, die darin wohnen koennen

oder konnten-

was ich am morgen dachte, als du nur auf dein handy sahst

Lena Riemer
2002

imaginäre zigarettenstummel zwischen fingerkuppen ich schnippe dir hornhaut vom gedächtnis (es ist die erinnerung an letzte nacht) hautschuppen wein in den kiemen und abendsonne aber keine hitze des gefechts kein passioniertes ringen (mit sich selbst und den gegebenheiten überhaupt) und es war ja auch erst mai als du deinen schatten in eine betthälfte stampftest (erinnerung an die schwerkraft) ich dein mond oder du meine metastatase umlaufbahnekstasen kein deutungshorizont am morgenhimmel die großen wörter sind längst durchgelegen (memory foam nimmt alles vorweg) mein prokrastinatives kratzen am aschenbecher die stille erwartung (hoffnung?) einer supernova dein fingerflattern auf dem smartphone zerknitterte laken irgendwo kocht jemand kaffee

abtauchen-versinken-tunken

Anna Thommes
2005

ab·tau·chen /ábtauchen/
schwaches Verb
1. Seemannssprache

(von U-Booten) unter Wasser gehen
2. Jargon
in den Untergrund gehen

 

Ich bin abgetaucht.
War mir zu laut da oben, an der Oberfläche
An der Oberfläche war die Luft verseucht und gebraucht
Bin in den Untergrund der Wellen gegangen.
Just konnte ich wieder atmen, unter Wasser.
Unter Wasser hat das Licht andere Schattierungen, unverhangen.
Jetzt schwebe ich zwischen den Gedanken
Gedanken, die allesamt mit mir versanken.

 

ver·sin·ken /fɛɐ̯ˈzɪŋkn̩,versínken/
starkes Verb
1a. unter die Oberfläche von etwas geraten und verschwinden
1b. einsinken

 

ver·sun·ken /versúnken/
Adjektiv
einer Sache ganz hingegeben

 

Ich hab mich versenkt, wie einen Stein.
In glasklaren Nächten, warm und kalt, düster und rein.
In der Dunkelheit und Finsternis
Finsternis, in der du wartest
Versunken in der Seele einer stürmischen See
Versunken in Erinnerung und Traum
Streife ich den Saum einer Zukunft,
Die meine Fingerspitzen bloß berührt

 

Schreibe, um zu träumen.