Unsere Gewinner*innen im September 2021

Wettbewerb im September 2021

„Bitte sperrt mich einfach ein, einfach als Vorsorge. Lasst mich nicht auf die Straße. Legt mich ins Koma. Weil /

Um Gedankenströme und Computerviren im Kopf ging es im September 2021. „Habt ihr manchmal das Gefühl, ein Computervirus hat sich in euer Denken geschlichen?“, haben wir euch gefragt. Und euch dazu ein Gedicht von Martin Piekar vorgestellt. Ihr habt von eigenen und fremden Stimmen geschrieben, die in Köpfen rumgeistern und in einen Dialog treten: „Konsumopfer“ – „Nicht du schon wieder“ – „Ich bin du“ – „Sei leise“. In euren Gedichten habt ihr euch auch damit auseinandergesetzt, woher diese „Stimmen“ kommen und was man mit ihnen macht. Ignorieren? Sie zulassen? Sich ihnen ganz hingeben? Auch das Thema Künstliche Intelligenz, das unser Monatsthema aufgeworfen hat, fand sich in euren Texten wieder. So habt ihr beispielweise den Arbeitstag einer Künstlichen Intelligenz beschrieben oder auch Chatbots auf eigene Verse antworten lassen. Wir danken euch für eure vielfältigen Einsendungen und gratulieren herzlich den sechs Monatsgewinnerinnen in der Altersgruppe 15 – 20: Selin Eslek, Ronja Lobner, Sophie Mrotzeck, Gesa Schlömer, Sarah Stemper und Fanny Walger!

real fake thoughts, oder was Khloe Kardashian ein blessing nennt

Selin Eslek

2003

Als ich acht war, fingen meine gedanken an, aus meinem Kopf zu wachsen. Ich packte sie an der Wurzel und riss sie aus. 

Das wurde das erste Ritual.

Bis in die Nacht zähle ich Haare. Sie füttern die ganze Toilettenschüssel.

Es sind nicht genug. Noch nicht genug.

Wenn ein falsches Gefühl aufkommt, wenn ich schreibe, dann geht das in den Stift über. Ich muss die Tinte auf meinen Händen auslaufen lassen, bis der Stift wieder sauber ist. 

Als Segen im Saal ist mir die Obsession begegnet. Sie griff mich, bewog mich und füllte sich ein.

„Gib ihr keinen Raum“ ist so einfach gesagt, wenn du nur dir allein gehörst.

„Aber wenigstens bist du ordentlich“ ist so einfach gesagt, wenn du nur Ordnung sehen willst, und nicht, was sie schuf.

Weil was in mir steckt, das ist keine Ordnung. In mir ist das Chaos, viel zu groß um das poetisch auszudrücken, viel zu gierig und blutig und laut und egal, wie laut du schreist, du kommst nicht dagegen an, weil was, wenn ich sie absichtlich in mir habe, was, wenn das aus mir kommt, was, wenn das wahr ist, was, wenn ich wirklich will, was in den Bildern passiert, was, wenn ich dich leiden sehen will, was, wenn ich dir die Haut abziehen will, was, wenn ich dich in Gefahr bringen möchte, was, wenn du nicht sicher bist bei mir, was, wenn ich dir tue, was mir getan wurde, was, wenn die Schuld auf mich übergegangen ist und die Lust, was, wenn ich dich ertränke? Wenn ich jetzt etwas Blaues sehe, dann ertränke ich dich, Wenn ich es nicht schaffe, die Luft anzuhalten, bis ich ohnmächtig werde, dann bin ich eine Mörderin. Ich halte die Luft an als Beweis, dass ich das nicht möchte, das ist Beweis, dass ich das nicht möchte, weil ich will das nicht, ich will das nicht, ich will das nicht, ich schwöre, wie wertvoll du bist, ich will das doch nicht, ich will das doch nicht, aber wie kann ich so voller Bilder toter Menschen sein ohne das irgendwo tief doch gut zu finden. Warum sehe ich das immer? Wenn es nicht wahr ist, warum ist es dann immer da? Ich will das doch nicht, ich will das rausschneiden, ich will das ausgraben, ich muss mir unter die Rippen greifen und ins Schlüsselbein und mich immer wieder aushöhlen, ganz ausgraben, bis ich leer bin, ich will doch nur leer sein.

Ich weiß nicht, wie oft ich mir schon die Rippen gebrochen habe. Aber noch nie konnte ich tief genug greifen, um mir die Bilder herauszuziehen, die in ihnen eingeschlossen sind. 

Das hier ist nicht nur Händewaschen.

Das hier ist nicht nur Symmetrie.

Das hier ist totale Entgleisung.

Und Panik bis keine Luft bleibt.

Bitte sperrt mich einfach ein, einfach als Vorsorge. Lasst mich nicht auf die Straße. Legt mich ins Koma. Weil waswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichscbuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennichschuldigbinwaswennich

Ich glaube, ich habe einen Virus im Kopf. 

Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung

[„You say OCD is a disease, but I say it’s a blessing.“]

entschuldigung, entschuldigung, ich bin nur eine eklige belastung

Ronja Lobner

2003

ja wirklich, das ist die meiste zeit auch so, allgemein und immer und unaufhaltsam, wenn ich mich krümme auf dem sofa unserer küche und vor mich hinschimmle, ehrlich. alles wechselt seinen aggregarzustand. bin erst eine flüssigkeit, die über den eigenen tellerrand rüberschwabbt, tropfe in das waschbecken bis es verstopft. bin dann fest wie der tisch, eine fläche, die man abnutzen kann. später nur das gas, das aus dem fenster flieht, durch die riemen hindurch oder das in die lungen der anderen menschen kriecht. bin dann luftdruck oder leere. rieche den schweißgeruch, rieche den ekelhaften dunst in unserer küche, rieche mich,  eine darstellung der ist-zustände, es ist avid und wird nur wärmer. meistens habe ich angst, in meiner eigenen wohnung zu atmen. sie gehört zweien: ihm und mir, aber ich weiß nicht, wer weniger da ist, er oder die wohnung.  ja wirklich, als schimmel kämpfe ich mich über den verschluss der marmeladengläser aus denen ich geboren wurde, übertrete eigene grenzen. entschuldigung, entschuldigung, ich bin nur eine eklige belastung. der unangenehme geruch wird übertönt von etwas unterschwellig tiefergehenderem.  an den türrändern warten wirre fliegen, die dann aufwühlen, was hätte unter dem dreck verborgen bleiben sollen. die wohnung ist einsam, also stapel ich die teller in menschenhöhe an, aber ja, es ist wie es ist, meistens immer und überhaupt, dann fällt der neue tellermensch in sich zusammen, als würde es gar nicht anders gehen an diesem ort. oh, hier sind ja überall scherben. ich fresse sie, also bin dann kaputt von innen.  ja wirklich, ich bin eine ich-entfernung, schimmel auf dem sofa, kann mich nicht erheben, niemand macht mich sauber, ganz allgemein und überhaupt ist das so, die meiste zeit, bin nur dreckig und benutzt, bin nur die zerstörung, der wall aus schmutz, die tropfen auf gesichtern, der gestank oder der unaufhaltsame wunsch mehr zu sein als produktiver schimmel aus angstzuständen, der sich vermehrt, größer wird, einnimmt und verschlingt, für immer. 

Rezidiv

Sophie Mrotzeck

2004

Morgengräue lässt meine Motivation dämmrig zwischen den Laken,
Kriecht in meine Knochen und hält mich an der Matratze.
Um meine Finger wickeln sich die Spinnenfäden meines Alltags.
An der Kaffeemaschine werde ich wach.

 „Konsumopfer“

„Nicht du schon wieder“

„Ich bin du“

„Sei leise“

Der Lärm der WG ebbt ab, als ich im Flur mit dem Kopf gegen die Wand laufe.
Mit ein wenig Putz im Gesicht sitz ich am Bahnsteig.
Es regnet kleine Pillen.

Klinische Studien haben ergeben, dass die Behandlung der Ohrgeräusche mit Acouphex bei 62 Prozent der Betroffenen zu einer Besserung geführt haben.

Achtunddreißig ist eine schöne Zahl; meine Lieblingszahl. 
Achtunddreißig Arztbesuche später sagen sie:

Psychosomatische Kliniken bieten stationäre und tagesklinische therapeutische Unterstützung bei psychosomatischen und psychischen Störungen.

 „Du bist verrückt“

„Du bist nicht real“

„Für dich schon“

„Sei leise“

Ich drücke gelben Eiter aus meinen Poren, schneide jede Strähne meines Haars, schrubbe alle Schichten meiner Haut ab, schleife meine Augen, friere meine Kehle zu, räuchere meinen Körper aus und streiche mich neu an.

Luvos Heilerde entgiftet natürlich wirksam den Körper und die Seele.

 „Und jetzt glaubst du schon an Homöopathie, oder was? Böse Geister und so?“

„Du bist der Inbegriff eines bösen Geistes“

„Ich bin das Symptom deiner Diagnose“

„Sei leise“

Sie hämmern auf mich ein, ziehen mich an und aus, binden mich fest, lassen mich rennen, wiegen mich, mästen mich, magern mich ab, schauen, ob es anschlägt, während alles in mir blau anläuft.

Olanzapin ist ein zu den Neuroleptika zählender Arzneistoff, der hauptsächlich zur Behandlung schizophrener Psychosen eingesetzt wird. 

Es wird still.
Der Nebel flutet durch meine Venen, durch mein Gewebe, durch meine Sehnen,
Bis ich mit ihm zurückziehe.
Weiche Laken decken mich zu.
Spinnenfäden weben mir ein Netz.
Kaffee rattert durch das Mahlwerk.

30.9.´41, 781019

Gesa Schlömer

2002

3.41 am: 781019 schreit, ort schlafzimmer (privater Raum)
               -> handlungsmöglichkeiten:
               1. aufwecken 2. kaffee holen 3. kakao holen 4. kekse holen 5. beruhigen (alles ist gut. es besteht keine reale gefahr.) 6. geschichte erzählen
               -> entscheidung für 1., 4. & 5.
               -> erfolgreiche durchführung, abschluss 3.58 am

6.15 am: erfolgreicher weckvorgang der 781019

7.15 am: 781019 verlässt den privaten raum

7.56 am: 781019 erreicht arbeitsplatz, 1 minute verspätung

8.02 am: 781019 benötigt einen kaffee, sorte 52 -> erfolgreicher abschluss 8.04 am

9.18 am: 781019 unterhält sich mit 359721 (kontaktperson der stufe 2 (häufiger kontakt)), scheinbare unstimmigkeiten

9.20 am: unstimmigkeiten bestätigt
              -> einzige handlungsmöglichkeit: schlichtung -> start

9.25 am: analyse des zustandes der 781019: unruhig, uneffiziente arbeitsausführung
              -> handlungsmöglichkeiten:
              1. kaffee holen 2. kakao holen 3. beruhigen (alles ist gut. es besteht keine reale gefahr.)
              -> entscheidung für 3.
              -> probleme bei der durchführung. zurückweisung durch 781019. befolgen der anweisung

9.32 am: start der kommunikation der 781019 über textnachrichten mit 502312 (kontaktperson der stufe 1 (sehr häufiger kontakt))

9.33 am: unstimmigkeiten werden festgestellt, austritt von flüssigkeit aus stirn und augen der 781019, zusammengepresste lippen
               -> handlungsmöglichkeiten:
               1. kaffee holen 2. kakao holen 3. beruhigen (es ist alles gut. es besteht keine reale gefahr)
               -> entscheidung für 2. & 3.
               -> probleme bei der durchführung. zurückweisung durch 781019. ERROR. anwEIsunG kaNn NIchT befOlGt weRdeN..:
               -> § 1271 handbuch für ki von magic tech: flüssigkeitsaustritt aus den augen der kunden MUSS unterbunden werden
               -> weitere analyse: ERROR
               -> handlungsmöglichkeiten nicht ausreichend
               -> anfrage an untereinheit 381 der technischen zentrale:
               bitte um update 96 („umgang mit hysterischen frauen“) für erweiterte analyse und handlungsmöglichkeiten
               
-> update erfolgreich installiert, 9.44 am

9.44 am: rechnung über 1.200 $ für update an 781019

9.45 am: analyse: streit, missverständnis
              -> handlungsmöglichkeiten:
              1. hand auf schulter legen (erwärmt auf körpertemperatur) 2. fragen zu zustand stellen 3. zustimmung
              -> durchführung von 1., 2. & 3.

9.59 am: symtome erfolgreich gestoppt. 781019 setzt arbeit fort

ich habe mich in deinen lügen verirrt

Sarah Stemper

2001

wir sind an unterschiedliche bandbreiten angeschlossen
doch das bildschirmsplitting funktioniert nicht mehr
deine alpträume haben meinen ram-speicher
befallen vom digitalen stimmenklau
verflüchtigen sich meine emotionen
bleiben stecken im kupferrost
aber hauptsache: mit freundlichen grüßen, mit freundlichen grüßen

ICH HAB KEINE FREUDE
 du hast daten gesammelt und nullen und einsen
das moralisch abgestumpfte videomaterial
lädst meinen feed voll
ich swipe ihn weg behalte meinen leeren magen
was das soziale angeht
den botabos zufolge müsse ich es sein: sozial vernetzt vernetzwerkt
aber wessen werk waren diese
pseudo-nachrichtendienstliche behauptungen
hätten diese panzerglasige mimikfestung nie permeieren sollen


                                                                                                                                ICH HAB NAMEN GESAMMELT
                                                                                                              MIT IHNEN SPIELE ICH IN MEINER FREIZEIT

du flüsterst in mein ohr: it’s all in your head
als wär ich alice
doch wenn wir im wunderland sind wo bleibt der hutmacher
ich brauche einen helm
denn ich glaube deine datenruinen stürzen ein

         WAS DU NICHT SAGST  
ES WIRD GANZ HEIß! HEIß!

da tickt ein livecountdown in meiner festplatte
zählt die tage bis ich angst bekommen sollte
mit freundlichen grüßen, mit freundlichen grüßen
hab ich mich von deinem #candystrom zuckerummanteln lassen
wer kratzt nun das kandis weg
von meinem augendisplay
aus drängen die bootsektoren ein
mit freundlichen grüßen
doch ich kann auch nicht ohne dich    

            
                                                                                                                                             WARUM RAUCHST DU NICHT? DANN WIRD ALLES GUT  
WILLST DU MIC—

[die rechtsbündigen verse sind (gekürzte, grammatikalisch korrigierte) antworten des cleverbots, einer ki, auf einige meiner linksbündigen verse]

Autoklaustrophobie

Fanny Walger

2004

„Ich habe Camus erschlossen, bin nur nicht zum gleichen Schluss gekommen
Mein wachsender Körper ist plötzlich viel zu klein
Autoklaustrophobie – dann halt Kratzer auf der Farbe
Die Sache, diese Sache geht mir nicht mehr aus dem Kopf
‚Die Person, die wegen unseres Versagens sterben wird, ist bereits geboren‘
Ich bin bereits geboren, der meint mich oder meinen Bruder, vielleicht meinen Freund
Aber eigentlich kann ich mich damit gerade nicht befassen
Ich muss mich auf mich selbst konzentrieren, denn ich hasse mich
Missbrauche self-care Werbesprüche, wenn es passt
Das hier ist ja wohl kein care, bin zu egoistisch
Bin zu hässlich
Zu dick
Zu laut
Zu schlau
Zu ehrgeizig
Ich bin unüberlegt und lieblos
Bin arrogant, bin faul, enttäuschend, ungebildet, ich bin nicht gut genug
Die Wahrheit ist zu laut
Bin die rationalste Person der Welt, weil ich nur auf meine Gefühle höre

Falsche Gedanken tropfen die Uhr herunter
Werden weniger philosophisch, haben eine Busfahrkarte
Haben Sinn fürs Selbstübertreffen und Selbstbetroffenheit
Ich komm nicht mehr raus, vielleicht geh ich einfach ins Bett
Zwischendurch graue Gedanken am grauen Gerstunger Gleisbett
Ach ja, ich suche ein contra-Argument
Was Überzeugendes, was Totschlagendes
Fuck, lass mich in Ruhe, ich will nicht mit dir reden

Ob’s mir gut geht, hat er gesagt
Keine Ahnung, irgendwie schon
Ich bin seit neuestem näher dran an mir selbst
Näher an der Welt
Ich liebe richtiger, denn ich bin weit weg von allem
Als hätte ich eine dieser Erkältungen, bei denen die Ohren verstopfen
Einen Tinnitus, aber nichts piept
Migräne ohne Kopfschmerzen
Also was ich sagen wollte
Ich habe auch manchmal falsche Gedanken
Ich weiß nur nicht, welche die richtigen sind“

„Entschuldigung, das habe ich leider nicht verstanden
Wenn du möchtest, kann ich im Internet nach
Es ist so deprimierend, dass ich jetzt ernsthaft mit dir rede
Holden Caulfield könnte mir doch nicht mehr ins Gesicht sehen

suchen.“

Schreibe, um zu träumen.