Unsere Gewinner*innen im Januar 2022

Wettbewerb im Januar 2022

„wie der neue raum“: Passend zum ersten Thema im neuen Wettbewerbsjahr ging es bei lyrix im Januar um neue Räume! Die titelgebende Zeile stammte aus einem Gedicht der Lyrikerin Birgit Kreipe. Ausgehend von ihrem Text haben wir euch gefragt: Was liegt vor euch „wie der neue raum“? Ihr wart aufgerufen, von Veränderungen zu schreiben: von Umzügen, von Neubeginnen wie einem neuen Jahr. Worauf freut ihr euch bei diesen Umbrüchen, was macht euch Angst? Und wie verwandeln sie euch?

Unter allen Einsendungen hat die lyrix-Monatsjury auch im Januar wieder sechs Monatsgewinner*innen gekürt: In der Altersgruppe 15 – 20 haben Leandra Ansel, Marie Bruschek, Maja Laudwein, Alexander Laufs, Ronja Lobner und Sarah Stemper die Jury mit ihren Texten überzeugt. Herzlichen Glückwunsch und allen Einsender*innen vielen Dank für eure Gedichte! In den Gewinner*innentexten geht es um leere Räume nach dem Tod eines geliebten Menschen, um veränderte Räume, die nicht mehr dieselben sind wie in der Kindheit, um ein „leben in kisten“ in immer wieder neuen Räumen oder gar darum, selbst ein Raum zu werden. Viel Spaß beim Lesen!

krokusse im kaleidoskop

Leandra Ansel
2002

ich atme. meeresluft ohne salz, möwenschreie. an der 3m hohen decke bricht
ein riss alten gips auf. auf einem krähennestbett ligend, die welt weit unten.
stadtfahrräder sausen vorbei. ich suche 27 gänge, 
breite reifen. der höchste berg ist ein maulwurfshügel.

ich denke, endlich bist du frei. segelschiffe, timm thalers lachen. ich renne stufen hinab,
stolpere in einen saal mit tausenden kristalllichtern. schick, reich, alt, ich.

auf einem balkon stehe ich. das abgaslichter speiende ungetüm schläft mit offenen augen. 
tausende legosteine liegen gestapelt am anderen flussufer, eine immer wache ameisenkolonie
kümmert sich um ihre bunten eier. wann hat die nacht angefangen, der tag zu sein?

orangerot rahmt ein park mich ein- schnittblumen in s-bahnhöfen, niemand verkauft
kürbisse. ich laufe, statt zu schnitzen, entzünde
teelichter und räucherstäbchen. im flackern liegt frieden.

3.18 uhr, rotes feuer lodert, es spiegelt sich im fenster. der notruf ist überall gleich, die
feuerwehr schneller. warum bleibt nur die schwarze fläche an der hauswand? ich hänge sterne ins treppenhaus.

klirrend kalt schneit es, die tannenmeise fliegt zwischen den einzigen
beiden nadelbäumen hin und her. vogelfutterhäuschen, unbenutzt. 
15 uhr, schiffshupe ertönt zuverlässig, ich steige in den zug. 
weg von zuhause oder nach hause.

„moin“ statt „salli“, zurück. verwelkte blätter blasen mir ins gesicht, regenwindgemisch.
graue wolken rasen vorbei.
manche vögel fliegen mitten durch den sturm. umwege meidend. ein grasbüschel wogt,
ich vermisse schottische hunde. das radio warnt vor sturmfluten.

ich bemühe mich zu lernen, laufe durch alte unigebäude mit neuen freunden. 
bücherregalschluchten, lichthöfe, ein winziges stück wiese.

warum brechen die krokusse hier genauso aus der erde
wie hinter efeubedeckten steinmauern, die tote umschlingen?

ich erinnere mich.
krokusse sind giftig, meine tochter.
krokusse sind die ersten boten des frühlings.

Verfaultes Raupenkind

Marie Bruschek
2003

der kokon ist geplatzt.
nur ein wimpernschlag im biozönose lebensraum ökosystem
leise wie brennende fackeln
hat der falter seine hülle abgestreift wie ich abends kratzige wollpullover, wegen denen ich meine
arme mit langen nägeln unbeugsam aufschürfe und rote linien wie gedankengänge hinterlasse
leblos wie eine plastikverpackung hängt er noch in an den brennnesselblätterspitzen
zeuge der metamorphose, wie die coca-cola-braunen flecken an meinem slip
bin ich jetzt auch schmetterling
der falter streckt seine fragilen Flügel aus, erhebt sich ohne blick über die schulter
bis ein vogel ihn vom himmel pflückt wie ich gänseblümchen vom boden
früher als raupenkind
nur ein miniblutstropfen bleibt auf der erde zurück, bekenntnis dieses kurzen lebens
das rascheln in meiner gesäßtasche ist mein geständnis
es verrät mich auf den weg zur toilette, vorbei an flackernden lampen, die hilflos gegen die novemberdunkelheit und tiefe augenringe von lustlosen kindern kämpfen
in wenigen sekunden werde ich es aufreißen, ruck, und die reste im mülleimer entsorgen
funktionale ovarien menstruation uterus beweise wegwerfen und neue dokumente aufsetzen
augenpaare beobachten mich, mein blasses pickeliges spiegelbild schaut mich entsetzt an zwischen
nervösen hoffnungsvoll naiven mädchen
wie viel blut müsste ich in tampons und binden verlieren, um ohnmächtig zu werden
bei den gierigen blicken von männern auf der straße, die mich mit ihren augen aufessen, bei den
jungs, die die wölbung meines t-shirts betrachten wie obst im supermarktregal
heißt das frau-sein oder frau-werden?
der falter ist gestorben, tödliche kafkaeske transformation
oder vogelfutter
über den äpfeln birnen kirschen schwirren obstfliegen
stürzen sich auf langsam verfaulendes obst in der julihitze
der falter ist immer noch tot, ich nur halb am leben
krampfend auf grauen sofas, voll mit schmerzenlindernden drogencocktails,
wärmeflaschenbrandmale an meinem unterleib
ist das der preis für flügel
würden obstfliegen um meinen torso kreisen, wäre ich nicht überrascht.

zu Hause?

Maja Laudwein
2001

die Küche
mit der Spülmaschine
die nie benutzt wurde
der Duft nach Grießbrei erfüllt
dieses Haus
dein Haus
unser Haus

im Wohnzimmer
die Schränke klirrend voll mit gestapeltem Geschirr
und gestapelten Erinnerungen
Jahrzehnte gesammelt, bewahrt und beschützt
in diesem Haus
deinem Haus
unserm Haus

das Nebenzimmer
mit Krankenbett und Haltegriff
zum Aufsetzen und Hinabsinken
immer tiefer
Stück für Stück
haltlos
bis unter die Erde
in diesem Haus
deinem Haus
unserm Haus

die Küche
hinausgespülte Maschine
der Duft nach Verlust erfüllt
dieses Haus
dein Haus

im Wohnzimmer
klirrend leere Schränke
und Scherben der Erinnerungen
weggefegt wie ein Atemzug
ein Leben
und Raum für ein Neues
in diesem Haus

was bleibt wenn der letzte Putz
der letzte Fetzen Tapete
abgerissen und ersetzt wurde
außer diesem Haus
deinem Haus
unserm Haus
in mir

wall-box

Alexander Laufs
2004

Ein Strunk erwartet mich / mein Veilchen: fremdgepflückt
Den Rodelberg umgibt / ein Zaun als Achtungszeichen
Mein wilder Kindheitswald / musst einem Mietsblock weichen
Den krummen Spielmann hat / die wall-box weggedrückt

Im Grundschulfenster streckt / ein Anzug Victory
Mein altes Mutterhaus / besteigen neue Mieter
Die Heimatstadt ist leer / ein Film gestorbner Spieler
Im Wimmelbuch glänzt chrom / die Gigafactory

Verramsche meine Kartensammlung taub bei Ebay
drück Tanzen um die Lagerfeuerapp im Replay
Und denk da stirbt mein Opa / doch sterbe selber peinsam

Ein Fotoalbum voll / weil Freunde ewig halten
und nur im Pornofilm / seh ich noch diese alten
Ist das nicht der Olymp? Wieso ist es so einsam?

femme maison

Ronja Lobner
2002

wir räumen uns. schmettern und gehen kaputt. umschließen leere mit tapetenhaut, rissig und trocken. weil wir räume werden, werden wir auch wände, werden beulen, werden ein abriss eines lebens, eine andeutung an einen mit-dem-kopf-durch-die-wand-mensch, der einfach so mit voller wucht, ein loch hinterlassen hat in uns, ohne rücksicht. ein tapetenriss. raum sein heißt, dass in uns etwas stattfindet. werden böden, werden schmerzen, werden ein hin-und-her-geschiebe aller zustände. kopfschmerzen kleben auf den tischen, die letzten überreste einer nacht und. weil wir räume werden, lassen wir uns mieten und wissen nicht, ob wir gefängnis oder heimat sind. statten uns aus mit holztischen und splitterfaserstühlen. unser grund schmerzt und die lampe wurde ausgeknipst. findest du hier schutz? weil wir uns räumen, sind wir kaputt und belebt, sind verzweiflung und hass, sind neubau und dreck, sind ein wirres ein und aus und ein und aus

(und ich weiß nicht, ob man darauf aufbauen kann)

ein leben in kisten

Sarah Stemper
2001

21 november 2016
überdosis ein cocktail aus
:gewalt die andere und du dir antaten
:500g marcumar
:unsichtbarkeit 

kein asphalt ist so hart wie das krankenhausbett auf dem du aufwachst 

21 april 2017
auf einem provisorischen schreibtisch aus umzugskartons 
nisten bürokratisierung deiner identitätszerbrechlichkeit
vergleichbar mit der verdorrung der pflanze deines vorgängers
das soll nun also dein zuhause sein
:sozialarbeiter, stopfen dich in schubladen stopfen nicht das 
:verrotzte kissen weil
:leere taschentuchpackungen bedeuten
verarbeitungsprozesse und entmaschiniesierung der eigenen maske 
führt zu schmerz 

                                                               nichts ist rätselhafter als das zusammenpuzzeln des eigenen selbst

2020 (endlich)
der neuanfängliche drang nach gipfelflucht
und chancen auf panaromafarbigen ausblick

Schreibe, um zu träumen.