Unsere Gewinner*innen im November 2022

Wettbewerb im November 2022

Herzlichen Glückwunsch! Anastasia Averkova, Alexandra Barth, Ramona Leukert, Amalie Mbianda, Viktoriya Tetko und Sophia Wochatz sind die Monatsgewinnerinnen in der Altersgruppe 15 – 20 zu unserem November-Thema „grau / aber ohne grauen“! Darin baten wir euch, in eure eigene Vergangenheit zu reisen und uns von vertrauten Orten zu schreiben: An welche Details erinnert ihr euch? Inwiefern seid ihr nicht mehr die Person, die ihr damals wart? Passend dazu stellten wir auch Julia Mantels Gedicht „kriftel/ts an weihnachten, (ohne) grau(en)“ vor. Besonders die von euch gedichteten Details von vertrauten Orten bewegten und berührten. Da ist von „abwechselnd blau und gelben fliesen“, die „einmal strand und meer für uns“ waren, die Rede, von der „bushaltestelle mit dem gleichen fahrplan / mit der gleichen wetterprognose mit dem mann / der mich nicht erkennt oder kenne ich ihn nicht“ und von dem „falsche[n] saphir an meinen viel zu kleinen fingern“. Der große Spalt zwischen damals und heute, das Unausgesprochene, ist Thema in euren Gedichten: „wir sitzen am tisch. was alles zwischen fühlen und sagen liegt, ganze gebirge und sprachen.“ Und nicht zuletzt das Erkennen und die Trauer darüber, dass nichts bleiben kann, wie es war:
„will zurück an den süßen ort / aber er wird nie mehr der alte sein / denn du bist weg und ich nie da“

wir kohärer:innen

Anastasia Averkova
2003

ich laufe aus
ich strecke mich über das meer
und esse die delikatessen
vielleicht und das würde ich nie zugeben
weiche ich aus

aber meine erinnerungen sind pflichtbewusst
sie kehren jedes jahr zurück
manchmal maskiert
dabei probe ich nicht mehr
ich spiele die fuge gut

draußen fällt schnee
ich selbst mein koffer das meer
das ich jetzt immer mitbringe
und niemand geht hier schlafen
ehe ich angekommen bin

da ist der kühlschrank ohne licht sein rauschen
ich weiß dass er lauscht mein vater
sein parkplatz der winter nicht meine perspektive
nicht mehr seitdem verstehen wir uns schlecht
da ist so ein rauschen hörst du das

und diese geliebte stadt
die ich ausgrabe auszugraben versuche
wenn wir in den park mit dem sandkasten gehen
sie ist versunken und ich verstreue nur
mich selbst und den sand zwischen meinen zehen

ich arrangiere die liebe
wenn die sehnsucht mich streift
sie kriegt mich nicht kriegt mich nicht
damals hat sie mich hier gefangen
jetzt laufe ich weg

da ist der telegraphenmast
da die bushaltestelle mit dem gleichen fahrplan
mit der gleichen wetterprognose mit dem mann
der mich nicht erkennt oder kenne ich ihn nicht
er hat eine wasserflasche in der hand

 

 

wir haben tee im haushalt
und eine mutter und wie immer keinen zucker
wir spielen mit karten ich würfle salz
ich lege schnee in den kühlschrank
ich trinke tee betrachte die topfpflanzen

ihre ausläufer
sie wachsen wie die unwahrheiten
und wie ich mal gewachsen bin
genau hier am besten
oder vielleicht weiß ich es einfach nicht besser

ich spiele etwas vor
diese fuge
mein vater holt mörtel
meine mutter dirigiert
ich telegrapiere über das meer

druck (links oben), gebirge (überall)

Alexandra Barth
2003

dieses jahr bleibe ich und komme nicht wieder. ein gedanke, und ich erliege dem schmerz. gestern hab ich mich selbst oben an der ecke in der weißen jacke vom letzten winter gesehen, da wurde mir ganz kalt, obwohl immer noch bloß regen fällt. ich dachte damals, ich wäre jetzt sonstwo. der sommer war lang und bunt wie saure schnüre, nur am ende waren überall knoten drin.

mama liest mir vor
als wäre ich wieder acht
wer streicht ihre falten glatt
wenn ich es nicht tue?

was, wenn sie mich jetzt fragt, was los ist? kann man die wale im herzen von außen sehen? der regen ist fein und metallisch, bohrt sich in die lücken zwischen meinen haaren, die das bleichmittel ausschwitzen. alles ist wie immer, dieser grüne geruch. ich war lange nicht mehr da. es brauchte eine nacht, und weg war ich.

papa summt das lied mit
dessen text er immer vergisst
er sieht müde aus
und ziemlich glücklich

hat er jetzt gesehen, wo ich grad in gedanken war? ich atme kekswolken ein und aus. ankommen ist schwer, wenn dich was in tausend stücke reißt. was hilft gegen das vermissen? wie genau füllt man fugen? braten ess ich ja nicht mehr. ich taumle in den warmen kokon und bleibe da so lang es geht.

schwester eins bringt das meer mit
und einen neuen wirbelsturm
der schon in ihren haaren knistert
wie ein liebes kaminfeuer

ich will nicht, dass sie danach fragt. ich hab alle worte dafür fortgeweint. das ding an sich geht nicht weg, im bett am abend im bus im bad schwappt es herein. wie viel zeit muss vergehen, bis ich einfach an sie denken kann? bruderherz, lass uns durch unser kindheitsvierteil laufen und über dich reden, das können wir gut.

schwester zwei war noch
spät draußen gestern nacht
sie sieht müde aus und stark
und das ist sie ja auch

wir sitzen am tisch. was alles zwischen fühlen und sagen liegt, ganze gebirge und sprachen. das jahr war schön, schaut euch die vielen fotos an der leine an. dieses jahr hat sie mein herz gebrochen. wir essen orangen und kekse, es ist laut und dunkel, es übertönt meine stille. wir lachen, mir ist ganz warm, alles hier hängt, wo es immer gehangen hat, ich hänge an ihr und daran, wie wir im sommer waren. zwischen meinen lungenflügeln bricht was. die heilige nacht bricht herein. ich will die familie so lange drücken, bis alles gesagt ist.

inbegriff von gewohnheit (an diesen tagen)

Ramona Leukert
2003

Der Dachboden
schwitzende teppiche und tonnenweise verbrannte kalorien
liegen fein säuberlich gestapelt
da zwischen verstaubten wasserflaschen die gefüllt sind mit
stolz-pubertärer disziplin und tränenflüssigkeit

                            my body my choice

pro flasche ein kilo                    pro sikutraktor ein kilo

Das Badezimmer
die abwechselnd blau und gelben fliesen
waren einmal strand und meer für uns
heute ist das wasser kalt und der sand rau
er klebt an meinen knöcheln als ich versuche aufzustehen
ich treibe auf dem tiefen salz
der bruder der das zittern nicht versteht
die wirren worte und die blutstropfen auf dem badewannenrand
für ihn wurde unsere vergangenheit niemals
verschwommene erinnerung
sie blieb selbstverständlich
gegenwärtige realität

Der Küchentisch
ich hasse diese gabeln
diese gabeln die ich so gerne auf den küchenboden warf
die geschirrschublade
dort steht

zinke           an zinke                an zinke

ich darf nicht hinsehen
sie würden versuchen
mich erneut aufzuspießen
alles hier ist vergiftet es riecht nach dem feind:
duftet so warm und nach bequemlichkeit
sein parfum klebt an jeder ecke an den tischbeinen
und tropft von der deckenlampe: direkt auf meinen teller

Der Ecktisch im Wohnzimmer
wenn der dunkelblaue samt aus der aufklappbaren eckbank gezogen wird
werden wir alle zu hollywoodstars
an diesen tagen kommt der vater aus dem lachen gar nicht mehr heraus
an diesen tagen saugt die mutter viel zu viel staub
an diesen tagen betrachte ich gern das kuchenmesser
manchmal werde ich das kuchenmesser gleite durch donauwellen und schneewittchentorte durch gedeckten apfel und lambadaschnitten
kaschiere die linien und tafele auf
durch wieviele kannen filterkaffee wurde ich heute wohl gezogen
die großmutter wickelt ihre liebe wie jedes jahr in rindsrouladen
die essiggurken ekeln mich wie jedes jahr an
und wir stabeln die eisernen zahnstocher auf dem dunkelblauen samt

ich werde weitergereicht bis nur noch krümel übrigbleiben
die mutter fegt sie auf wirft sie weg
: gott ich bin so eine schlechte hausfrau

Das Kinderzimmer
schwarz-weiß und in farbe
geordnet und durcheinander
erzählen geschichten von damals bis heute
alle emotionen verwaschen
ich spreche doch allemal von purem glück
nirgends verbotene substanzen
schaut doch
ich bin glücklich und ich mache auch nichts falsch
aber dieses zimmer ist und bleibt ein kinderzimmer und kein
erwachsenenzimmer:

es geht mir gut

                                aber selten hier

also spieße ich mit gabeln die flaschen auf
verziere mit verbogenen zinken und eisernen zahnstochern
schneide mit kuchenmessern große kinderaugen aus unseren
schönsten tagen mit dem echtesten lachen aus
durch das gelb stapfe ich von waschbecken zu wäschekorb
und lasse die flaschenpost ins blau gleiten

ich adressiere nicht: hier bekommt jeder alles
                                                 gleichermaßen

sie wachen doch jeden morgen auf
die nase verstopft von vertrauen und sicherheit
sind der inbegriff von gewohnheit
und ich winde mich in dunkelblauem samt
bis ich an diesen tagen wieder
aus der aufklappbaren eckbank
gezogen werde

the problem is

Amalie Mbianda
2002

the problem is that white sounds so much like right sagt mutter schält sich die perücke vom kopf eine zweite haut die alle Schwarzen tragen hast mich nach europa geboren mutter direkt ins zwischenmeer hinein musste mich selbst an land schwemmen mutter musste mir den sand aus dem haar kämmen kräuselt sich wie wellen die ich seit meiner geburt auf meiner zunge schleppe schmecken salziger als fruchtwasser in das ich wieder steigen möchte mutter wie in eine badewanne hinein

daheim schmecken mutters hände wund pulen mir die schuppen von der kopfhaut wie fisch der bereitet werden muss nein mutter erstickt mich in engen knoten stickt mir ihr muster auf den kopf strickt kunsthaar mit ein mutter lass mein haar herab kann die tante emporklettern mutter kann ich dann prinzessin sein

zuhause ist wenn meine kopfhaut ziept und noch bevor ich mutter den rücken kehren kann sagt mutter in zerbrochenem deutsch sie habe ein fluchtroute auf meinem hinterkopf geflochten die sahara gequert in den tschadsee getaucht vom sanage gespült durch den mayombe geschwungen luanda namib dann kap der guten hoffnung. 

 

Blau über Gelb

Viktoriya Tetko
2003

 Waren Sie schon einmal in der Ukraine?

 Wenn ich an Zuhause denke, denke ich an unser kleines grünes Auto und wie wir damit über Feldstraßen fuhren.
Mit der Zunge im Wind schmeckte ich die Farbe des Korns, welches sich bis zum Horizont erstreckte.
Als ich klein war, hatte ich geglaubt, dass das Ewigkeit bedeutet.
Diese gelbe Unendlichkeit, in der man sich, wenn man einen kurzen Moment nicht auf sich Acht gab, für immer verlieren konnte.
Und wenn die Abendsonne schien und das Feld anfing golden zu leuchten, hatten wir das Gefühl, das Leben selbst grüßte uns und versicherte ewig für uns zu sorgen.

 Darüber lag das wolkenlose Meer.
Wenn ich Durst bekam, brauchte ich nur meinen Kopf weit genug aus dem Fenster zu halten, bis mein Nacken gestreckt und meine Haare vom Wind getragen wurden.
Der tiefblaue Himmel überflutete dann jegliche meiner Gedanken, stillte meine Verlangen.
Er passte auf meine Träume auf und sorgte dafür, dass sie immer in Reichweite blieben.
Ich musste nur die Wolken wegpusten.
Himmelblau versprach mir Entscheidungen. Es bedeutete für mich die Freiheit.

 Der blaue Himmel und die gelben Felder hatten sich schon immer geliebt.
Die Freiheit und das Leben-
im Horizont begegneten sie sich in einem Kuss.
Die Ukraine hatte ihre Hochzeit besiegelt.
Blau und Gelb auf der Fahne vereint.

 Ich stieg aus dem Auto aus und rannte los. Die blaue Freiheit über mir und zwischen meinen Zehen das gelbe Leben.
Zuhause kam mir leichter über die Lippen, als der Weizen sich im Wind bewegte.
Ich hatte mir mit diesen zwei Farben eine ganze Welt gemalt.

 Aber wenn ich jetzt nach draußen schaue, haben die Dinge ihre Farben verloren. Der Himmel ist grau. Und die Felder auch.
Wenn ich wieder in mein Auto steige, losfahre und meinen Kopf aus dem Fenster strecke,
kann ich sie nicht einmal voneinander unterscheiden.

CHANEL N°5

Sophia Wochatz
2003

dein gesicht war grau
aber ohne grauen
als du eingeschlafen bist

oh mutter meiner mutter wie sehr ich dich misse
dein CHANEL N°5 war hörbar in der luft
ließ mich die bittere höhenangst der 8. etage wegatmen
der falsche saphir an meinen viel zu kleinen fingern
du sahst aus wie marilyn monroe mit deinen vanilligen haaren
dein radioaktives lächeln übertönte das knarren der modrigen dielen

draußen schmeckte man den schlamm
und sah deine hand in meiner hand in den kuhlen voll wasser
wir rochen zusammen den holzigen herbst in deiner allee
dein name war hoffnung und ist er immer noch
wenn ich im nassen himmel ein zuhause suche

zeit war unser größter feind
will zurück an den süßen ort
aber er wird nie mehr der alte sein
denn du bist weg und ich nie da
mein altes ich ist weggefahren
du hast vom meer geträumt
jetzt träume ich von dir

dein rat hat mir weisheit geschenkt die ich dringend brauch(t)e
ich hab ihn nie genug geschätzt
bis sich CHANEL N°5 in meiner nase verirrt
und das meer eines saphirs in meinen augen widerspiegelt

dein gesicht war grau
aber ohne grauen
als du eingeschlafen bist

Schreibe, um zu träumen.