Unsere Gewinner*innen im Dezember 2022

Wettbewerb im Dezember 2022

Habt ihr ein bestimmtes Material oder Element, das euch überrascht, beschäftigt, begleitet? Im Kleinen, Persönlichen oder im „großen Ganzen“ des Weltgefüges? Das haben wir euch im Dezember zum Thema „eine leichte verschiebung des strömungsverlaufs“ gefragt und um eure lyrischen Interpretationen gebeten. Weitere Inspiration gab euch das Gedicht „forever dolphin love I #2“ von Hannah Schraven. Unter allen Einsendungen hat die lyrix-Monatsjury die Texte von Anastasia Averkova, Ruta Dreyer, Finn Glass, Charlotte Obenaus, Amely Wernitz und Lia Josephine Wiegand ausgewählt. Sie schrieben von polaren Verbindungen, sich windenden Flüssen, liebenden Salzprinzessinnen und Sauerstoff kleiner als alles. Viel Spaß beim Lesen der Gedichte und herzlichen Glückwunsch den Gewinner*innen!

elementares #1

Anastasia Averkova
2003

ich bin abgeleitet. komme nur in dieser polaren verbindung vor. in der nacht vereinfacht. ich beobachte schmelzende gletscher und guppys in dem aquarium. du willst dich eindeutig mit mir austauschen. erzeugst monochromatische wellen. streichelst hitzig meine extremitäten. ich beobachte das zerbrechliche modell und bemerke.

ich wurde abgetragen.

ich hielt mich zurück.

ich war zufällig.

heute bin ich aufgestanden. besonders besorgniserregend. ich habe mich nicht dir geneigt.

ich bemerke. ich bin.

 

eine tümmlerin.

ich stehe in meiner periode. zuvorkommend. abgenutzt.

ich bin okay.

ich bin.

 

du versetzt mich. ohne es zu bemerken. in einem schlüpfrigen zustand.

 

rückschlag.

bis zur glashaut.

nervenzusammenbruch.

 

ich wachse mir haare. an stellen.

wo die muse mich küsste.

 

kaum wahrnehmbares lecken. als würden gletscher tropfen.

 

verzögerte exotherme reaktion.

eine freisetzung.

der grazien in die luft.

 

 

ich bin.

 

 

und was mich auf den punkt bringt. ist der blubbernde mund. der fisch der bei -2 grad schwimmt. keiner hört guppys. und auch ich bin lebendgebärend. was mich stört. ist die vibration. was mich interessiert. das flattern und leichte veränderungen der frequenz. wenn ich die muse küsse. wir streicheln uns an schuppigen stellen. dann werde ich zuständig. und lege den gletscher in den kühlschrank.

Die Ware Arbeitskraft

Ruta Dreyer
2002

Wir sind in einer Zeit angekommen,
in der die Warenproduktion ihre höchste Stufe erreicht hat.
Es ist beängstigend, mit welch angenommener Natürlichkeit
das Prinzip von Kauf und Verkauf alles durchdringt.

Ein Beispiel das Brot, dieser Tauschgegenstand für Geld,
der zeitweilen verbrannt wird, damit sein Preis nicht sinkt.
Alles ist möglich geworden: überdesignte Zahnpasta,
ausgestopfte Traumfänger und neonpinkes Dosenbier.
Alles, außer eine andere Gesellschaft, so sagt man.

Es reiht sich ein: Arbeitskraft, die Ware jedes Menschen.
Der Mensch lernt sie zu verkaufen,
freiwillig gezwungen, freiheitlich eingesperrt.
Er fängt schon früh an, seinen Kopf in einen Wecker
zu verwandeln und sich einen Wasserhahn mit Koffein
zu installieren. Sein Haustier Wut wird lebendig begraben,
gleich unter dem Bett.

Willkommen! Hier ist Fliegen möglich,
weil Flüüügel verleiht werden, bis zum nächsten Absturz. 
Jessica, Ahmed, Ben, sie waren alle
gute Freund:innen: Auf dem Arbeitsmarkt finden sie
sich wieder, nebeneinander in Konkurrenz.

Doch aufgepasst, die Arbeitskraft ist nicht
eine Ware wie jede andere. Sie selbst schafft Wert,
das macht sie besonders.

Als Quelle all jenen Reichtums, der in den Hallen von
Volkswagen, Siemens und Daimler produziert wird,
schafft nur sie es:
Die Gewinne von 2,1 Milliarden Euro alleine im ersten
Halbjahr 2022 von RWE,
20,7 Milliarden US-Dollar Gewinn von Apple
im dritten Quartal 2022,
3,682 Milliarden Euro Gewinn von BMW
in ebendiesem Quartal.

Was man mit dem Geld machen kann:
Eine Lobby gegen Armutsbekämpfung aufbauen,
sich die Beine mit Seide amputieren lassen, in nach
Moschusblumen duftende Leuchtreklame investieren. 
Hauptsache, es geht weiter:
Historische Gewinnausschüttungen
durch historisch kalte Heizkörper.

Ja, was bringt der säkulare Gehalt einer Gesellschaft,
wenn seine Verehrung des materiellen Gegenstandes  
einer totalen Unterwerfung gleicht?

Der größte Aberglauben liegt hier im Glauben daran, 
im heißen Herbst wahre Wärme finden zu können.

Es ist nur eine Frage der Zeit:
Die Tütchen an Sauerstoff, die irgendwann
verpackt und verkauft werden müssen, zwischen
exorbitanten Hirnen, die man trinken kann, um
schneller zu verstehen – die Infos, die einprasseln, aus
Keimen des Krieges, gepflanzt als Babysetzlinge auf dem Fensterbrett.

Das halb krepierte Haustier Wut, gelagert im Zimmer.
Gestorben ist es nicht.

Denn die Wut ist nicht dinghaft, aber stärker als jedes Ding.

Stärker als jede extra ausgeschüttete Dividende auf den Konten
einiger weniger.

Nach seiner Ausbeutung kehrt der Mensch
nach Hause heim, die Arbeitskraft muss reproduziert
werden. Dieses Mal ist es anders und er weiß,
er wird nun aufhören.

Die Arbeiter:innen werden gemeinsam aufhören:
In den Hallen von Volkswagen, Siemens, Daimler und
allen anderen, welche sich nur durch ihre Ausbeutung am
Leben halten können,
wahrhaftig.

Die Zeit der Warenproduktion kann sich
nicht länger selbst halten.
Sie produziert ihre eigene Zerstörung am
laufenden Fließband in jeder Halle.

Sobald die Menschen ihre Arbeit niederlegen,
zeigen sie, wer Reichtum produziert.
Den Unternehmen wird klar, was sie selbst sind:
nicht mehr als schlecht belüftete Betonkästen,
die Ersatzteile für Ersatzteile
für mit Absicht nur kurzfristig funktionierende
Akkuschrauber produzieren wollen.
Greifbar im Baumarkt,
fern die Vision.

 

Der Moment des Streiks ist somit
ein Moment der Wahrheit.

Nein, das Haustier Wut ist nicht gestorben.
Es musste sich nur stärken.
Nun erwacht es, räkelt sich, bricht aus,
hinaus auf die Straße.

 

Der Fluss der Veränderung

Finn Glass
2003

Eine leichte Verschiebung des Strömungsverlaufs, so unscheinbar, doch so mächtig. Ein kleiner Ruck, ein Hauch von Bewegung, Doch was wird sie bewirken, diese Verlaufsveränderung?

Ein Fluss, der sich windet durch das Land, mit tiefen Schluchten und hohen Klippen. Er trägt die Last des Wassers, des Lebens, doch plötzlich wird er aus der Bahn gerissen.

Eine leichte Verschiebung des Strömungsverlaufs, ein Hauch von Unruhe, ein Hauch von Zweifel. Doch wer würde sie bemerken, diese Veränderung? Wer würde sie wahrnehmen, in der Fülle der Dinge?

Eine leichte Verschiebung des Strömungsverlaufs, ein Hauch von Unsicherheit, ein Hauch von Angst. Doch was wird sie bewirken, diese Verlaufsveränderung? Wird sie das Gleichgewicht stören, das fragile Gleichgewicht der Welt?

Eine leichte Verschiebung des Strömungsverlaufs, ein Hauch von Veränderung, ein Hauch von Hoffnung. Doch wer würde sie bemerken, diese Verlaufsveränderung? Wer würde sie wahrnehmen, in der Fülle der Dinge?

Eine leichte Verschiebung des Strömungsverlaufs, ein Hauch von Möglichkeit, ein Hauch von Freiheit. Doch was wird sie bewirken, diese Verlaufsveränderung? Wird sie das Gleichgewicht stören, das fragile Gleichgewicht der Welt? Oder wird sie eine neue Strömung bringen, eine neue Zukunft, eine neue Hoffnung?

Monolog der Salzprinzessin

Charlotte Obenaus
2005

Vater; meine Liebe ist nicht teuer, jeder,
der ein Netz hat, kann nach ihr fischen.

Meine Liebe liegt in den Weltmeeren,
in den Bergadern des Himalayas und
überall dort, wo eine Herdflamme brennt.

Meine Liebe bewahrte am Delta des Nils
die Verstorbenen, wanderte als salarium
in den Händen der Legionäre über alle Märkte.

Meine Liebe schuf Straßen von Ostia
nach Rom, von Halle nach Prag, weißt du,
sie ebnete den Weg für Hufe und Räder.

Meine Liebe ist in jeder Suppe,
man sagt, wenn die Köchin verliebt ist,
dann nimmt sie die dreifache Prise.

Meine Liebe fließt in den Tränen,
die ich im Schlaf weine, und in denen,
die kommen, wenn ich in die Sonne schaue.

Vater; meine Liebe ist nicht teuer,
aber ich bin reich durch meine Liebe.

 

pyroklastika

Amely Wernitz
2003

der Himmel, am Anfang, war rosa.
Bevor wir anfingen zu träumen und Vergänglichkeit begann,
niemals endender Sonnenaufgang,
bevor da Teilchen waren, Sauerstoff kleiner als alles,
bevor da Augen waren, um zu sehen,
erinnern  wir uns nachträglich, erleben nachträglich, denn
wir sind geblieben von den Stürmen und der Asche,
aufgebahrt auf fruchtbarem Boden, Vulkan-Erbrochenes,
diese verlassene Menschheit hier, die die Hitze im Boden wieder sucht und den blauen Himmel verschleiern will, vielleicht
weil irgendwo doch noch das Verlangen greift, nach der Zeit davor.

Interferenzmuster (konstruktiv)

Lia Josephine Wiegand
2004

auf dem boden der tatsachen
liege ich nachdem 
unsere blicke sich den ganzen abend gekreuzt haben wie
die scheinwerfer, die auf dir sind und mich
manchmal da sein lassen

zwei Wellen sind gerade dabei 
aufeinander zu treffen, 
und du willst reden
also reden wir
irgendwo zwischen destruktiv und konstruktiv 

wenn das licht wieder durch die vorhänge fällt und 
ich probiere, im Takt mit dir zu atmen, 
vielleicht doch noch ein bisschen zu schlafen
sehe ich eine Parallele zwischen 
den Herleitungen und dir

denn immer wieder zerbreche ich mir den kopf 
darüber, wie zwei Wellen zusammen stärker sind
oder sich gegenseitig auslöschen 
sobald eine Variable anders ist
und wie wir unsere eigenen Parameter sind 

als wir in Physik über Interferenzen gesprochen haben, habe ich geweint
weil ich nicht verstanden habe, wie man den unterschied zwischen destruktiv und konstruktiv berechnet
seit ich dich kenne weine ich, weil ich mir nichts sehnlicher wünschen kann
als eine Formel, die mir dabei hilft 
mit dir immer konstruktiv zu sein

Licht und Ton und ich, wenn ich in deinen armen zittere;
dein puls unter meinen fingern und die Schwingungen der saiten
deiner gitarre, wenn ich probiere, nicht nur dich anzugucken 
überall sehe ich Wellen und wünsche mir, 
Interferenzmuster besser zu verstehen 

weil dann wäre das hier alles 
nur eine seite zwischen Analysen und Formeln
und ich würde nicht daran denken, dass 
alles positive bei dir
mich destruktiver macht.

Schreibe, um zu träumen.