Unsere Gewinner*innen im April 2022

Wettbewerb im April 2022

Im April stellten wir euch die dokumentarische Lyrik von Dana Ranga und die auf den Voyager Golden Records gespeicherten Informationen über die Erde vor.

Davon ausgehend habt ihr euch den Themen gewidmet, die euch umtreiben, und ganz unterschiedliche lyrische Wege gefunden, um in diesem Monat speziell Fakten und Informationen in euren Gedichten zu übermitteln. Eure lyrix-Jurymitglieder haben viel lernen dürfen in diesem Monat. Bemerkenswert an euren Texten zum April war dabei, dass sie neben der Informationsübermittlung poetisch bleiben.

Den sechs Monatsgewinnerinnen Leandra Ansel, Anastasia Averkova, Alexandra Barth, Meera Bhagwati, Ruta Dreyer und Emma Joerges gratulieren wir herzlich!

Apnoe

Leandra Ansel
2002

Manchmal sinke ich 
Mit Schwung in die Tiefe
Meine Füße streifen den Boden

Meine Hände berühren die Felsen an denen Abalonen kleben
Meine Augen blicken durch Seegraslicht

Während meine Lungen schrumpfen
Und Sauerstoff aus meiner Milz strömt

Bleibt mein Puls ruhig
und Blut rinnt in meine Körpermitte

Atemstillstand
Bis zum breath-hold-breaking point

Um mich herum lebt das Meer, Ökosystem,
Jahrhunderte schwimmen vorbei

Ama, Haenyeo –
Meerjungfrauentheorien

“men were too cold in the water”
Oder Steuern für Männer zu hoch

Mein Körper wird kalt und starr
Das Licht zwingt mich nach oben

Sumbi-sori
Das Wasser rollt von meinen Augen

Während ich gedankenlos ins Leere starre
In Trance in meiner Badewanne

                                                                                                  

Badewannen-Apnoetaucherin
Ama Chan

mein freund ist kurz zigaretten holen

Anastasia Averkova
2003

blindgegangene zünderköpfe im asphalt
werden mit trassierband abgesteckt

mein freund telefoniert mit den verwandten
er spricht deutsch und ich kein russisch

die fensterscherben liegen vor der redaktion
der letzte lohn wird in scheinen ausgezahlt

mein freund holt isomatten und schlafsäcke
der flur wird bei uns nicht korridor genannt

geliefert werden werkzeug und tuc-cracker
keine damenbinden und kein escitalopram

mein freund schläft nicht ohne seinen pass
ich schlafe nicht

alle taxis die nach dnipro bestellt werden
werden bestellt um nach lviv zu fahren

ich lese tolstois krieg und frieden
und die posts von lev u. a. bei instagram

auf fragen von bekannten im ausland
antworte ich mit zitaten

mein freund ist kurz zigaretten holen
um 19:57 trifft eine granate den kiosk

 – vllt. natasha

ich bin ausgezogen, aber niemand hat es bemerkt

Alexandra Barth
2003

i.
Es ist, was es ist
es sind 11.000 Meter
für die sie 7 Jahre brauchten
Nun sitzt er in seinem Anderthalb-Meter-Kreis
und sinkt hinab in die Tiefen
Auch der höchste Berg ist rückwärts nur ein Tief
manchmal fressen kreise dir löcher in die haut

ii.
Beständig sinkt er auf den Grund zu
nach 8 Minuten fehlt das letzte Sonnenlicht
Es ist, was es ist
es ist nach 4 Uhr nachts
und oben graut vielleicht der Morgen
als er langsam aufsetzt, langsam
this is me at my lowest

iii.
Boden ist nichts als Wirbel und Ringe
wenn man endlich da ist
ist es nichts als Rauch und Ringe
für immer bleibe ich hier unten
wo die kreise keine kreise keine kreise sind

iv.
Er sammelt Stücke seiner Umwelt mit Greifzangen auf
und macht Filme dieser ungekannten Einsamkeit
in der 1 Tonne auf nen Milliliter Wasser drückt
ich merke es nicht
und er 300 Kilo abwirft, um wieder rauszukommen

v.
Es ist, was es ist
Es war ein Akt hinab vom Drahtseil
die Tiefsee letztlich auslotbarer als gedacht
my name is marianna, ich wohne hier jetzt

critical mass

Meera Bhagwati
2004

wir werden uns im kern zerreißen.

um uns herum war staub
am anfang

groves hieß uns willkommen 
heisenberg und hahn
und die deutschen oben in norwegen
dort
am anderen ende der welt 
fällt schnee auf tote soldaten.

sie bringen unsere söhne um
und unsere väter. 

oppenheimer sagt,
es sei seine pflicht – dharma.
heilig spaltet er wissenschaft und schuld.
es ist seine pflicht.

kurz vor weihnachten hat fermi den reaktor vollendet, 
kontrollierte kettenreaktion klirren, kreiseln, kotzen
mir ist so kotzübel.
es schneit nicht in los alamos.

little boy little boy
junge junge, zünde unsere erde an.
die sonne versengt unser haar
in der wüste von new mexico.
in einem monat wirst du töten,
little boy.

verkohlte körper übersähen die insel
gelähmt
dort schneit es den tod.

drei tage bin ich ans bett gefesselt
kann mich nicht rühren, 
weder atmen noch denken,
und höre unter verschwitzten laken radio.

ich habe meine seele an den tod verkauft.
ich will mich spalten 
und in einer riesigen wolke den himmel durchbrechen.
sie sagen, es sah aus wie ein pilz.

wir werden zum staub zurückkehren
wir können nicht anders.

was haben wir getan ? 
es musste getan werden
es war unausweichlich
wir wussten, was wir taten

und hätten wir es nicht getan, 
hätten sie es getan
und es sind mehr als 
zweihunderttausend 
gestorben
bei ihnen, über dem ozean, 
dort ist die ganze erde blutig.

szilárd hat uns gewarnt, 
zweimal. hat dem präsidenten geschrieben.

wir haben ihnen das feuer gebracht,
stolz. ich will zerfallen.

UNANTASTBAR

Ruta Dreyer
2002

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie trägt einen 50 cm langen Schlagstock, eine schwarze Maske,
Schienbeinschoner so dick wie die Eier, die sie repräsentiert,
und eine beschusshemmende Weste.

Die ersten kugelsicheren Westen wurden schon im 17. Jahrhundert hergestellt –
aus Seide. Mehrere Stoffbahnen wurden übereinandergelegt und boten so Schutz gegen die Geschosse aus den damals noch recht primitiven Waffen.

Folgende Stoffbahnen sind dabei zu berücksichtigen:
Racial Profiling und rechte Strukturen: der Komplex „NSU2.0“, die rechte Terrorzelle „Gruppe S.“, der rechtsradikale, paramilitärische Verein „Uniter“, „Nordkreuz“, das „Hannibal“-Netzwerk, Franco A., aufgeflogene Chatgruppen in nahezu allen Bundesländern.

In der Staatsanwaltschaftenstatistik wurde deutschlandweit im Jahr 2018 von 2.126 Verfahren wegen „Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibeamte“ nur in 23 Fällen Anklage erhoben. In 76 Fällen wurde das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Die Ermittlungsmethoden und -abläufe in Fällen mutmaßlicher polizeilicher Misshandlung beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewaltanwendung entsprechen nicht den Grundsätzen, die in den von Deutschland unterzeichneten Menschenrechtsabkommen verankert sind.

/ Fakt ist: Qosay K. hat den Polizeigewahrsam lebend betreten. Nur wenige Stunden später starb der Jugendliche im Krankenhaus.
Auf Fotos von dort, die dem NDR vorliegen, ist der Heranwachsende kaum wiederzuerkennen.
Das Gesicht ist stark angeschwollen. Eingetrocknetes Blut ist an einem Hüftverband zu sehen.
Das Bettlaken, auf dem der junge Mann liegt, hat Blutflecken, rot getränkte Waschlappen lugen unter seinem Körper hervor. /

Ein Seidenfaden ist deshalb so stabil, weil die Moleküle in seinem Inneren alle in eine Richtung weisen. Kunstfasern, die heutzutage für Schutzwesten verwendet werden, zum Beispiel Kevlar oder Zylon, ähneln der Seide in dieser Struktur. Sie sind aber noch sehr viel reißfester.

Folgende Strukturen sind dabei zu berücksichtigen:
Ein bestimmter Männlichkeitstypus, der sich durch eine körperliche Risikobereitschaft und der Suche nach einer identitätsstiftenden Auseinandersetzung hervortut.
Die Grundannahme notwendiger Gewalt bzw. einer auf dieser Notwendigkeit aufbauenden sozialen Ordnung.
Der Korpsgeist, das missverstandene Wir-Gefühl: eine Mauer des Schweigens.

/ In einem Gutachten, das die Familie in Auftrag gegeben hatte, wurde als Todesursache sauerstoffmangelbedingtes Herz-Kreislauf-Versagen festgestellt.
Laut Staatsanwaltschaft fanden Rechtsmediziner:innen im Magen- und Darmtrakt des Toten Qosay K. Polyacrylamid und Natriumpolyacrylat, sogenannte Superabsorber.
Völlig unklar ist, wie diese Substanzen in seinen Körper gelangt waren. /

Trifft ein Projektil auf solch ein Gewebe, dann nimmt der Stoff die Wucht des Aufpralls in sich auf und verteilt sie über eine große Fläche. Darauf beruht die Schutzwirkung einer kugelsicheren Weste. Einige dieser Materialien haben aber auch einen großen Nachteil:
Das Problem ist, dass diese Stoffe anfällig sind gegenüber ultravioletter Strahlung von der Sonne und gegen Feuchtigkeit. Setzt man sie dem Tageslicht aus und auch dem Schweiß des Körpers, dann zersetzen sie sich nach wenigen Monaten und verlieren ihre schützenden Eigenschaften.

Die Polizei ist der zentrale Akteur des staatlichen Gewaltmonopols.
Während sie die Ordnung der einen beschützt, behandelt sie die anderen als deren Bedrohung.
Herrschaftsverhältnisse werden durch staatliche Gewalt reproduziert und verfestigt, seien es vergeschlechtlichte, sozioökonomische oder andere Ungleichheiten.
Sich nicht bedingungslos hinter die Polizei zu stellen oder gar Kritik an ihr zu äußern, ist mit einem hohen politischen Preis verbunden.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie trägt einen 50 cm langen Schlagstock, eine schwarze Maske,
Schienbeinschoner so dick wie die Eier, die sie repräsentiert, und
eine beschusshemmende Weste.
Doch diese Weste darf nicht von allen getragen werden, nur von einigen.
Die Würde des Menschen ist nicht für alle.

 

Der Text basiert auf einer Zusammenstellung verschiedener Zitate und Berichterstattungen, die Dokumentationen und Artikeln folgender Quellen entstammen: Süddeutsche Zeitung, Bundeszentrale für politische Bildung, Amnesty International, DER SPIEGEL, NDR, Deutschlandfunk, Loick, D. (Hg.): Kritik der Polizei, Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Frankfurter Rundschau, Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V., Kleffner, H.; Meisner, M. (Hg.): Extreme Sicherheit – Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz

 

 

 

ICD-10 F42 : Zwangsstörung und verwandte Störungen

Emma Joerges
2001

differenzialdiagnostische abgrenzung von deinen multiple choice antworten
annäherung / vermeidung
misslingen immer wieder und ich durchkreuze
selbstbeurteilungsfragebögen monochrom / dichotom wie nie
: ja / nein
herdplatte
: an / aus
tür
: auf / zu
hoarding
: haben / haben
haare
: raus / raus
haut
: kratz / kratz
(blutige neurosen direkt über meinem cortex orbitofrontalis)
ich
: lebendig / tot

: stehe an der straße / auf der brücke / am fenster
(was wenn ich springe was wenn ich was wenn was ich springe)
mit den fäusten versuche ich gedankenstränge büschelweise aus meinem kopf zu reißen
(aber es hängen nur wurzeln und schuppen daran)
: diese körper dysmorphie verwelkender gewebeschichten
: dieses tun ist ich-dyston (mein handeln gehört nicht mir aber wem dann wem dann?)
: was wenn ich was wenn ich was wenn ich

kittelgestalten pflanzen elektroden in mein hirn und gedanken evakuieren
40 g citalopram

Schreibe, um zu träumen.