Unsere Gewinner*innen im Mai 2022

Wettbewerb im Mai 2022

Im Mai erfuhren wir, wie eng Sehnsuchtsorte mit der Vergangenheit verwoben sein können: Dass es eine bestimmte Art der Sehnsucht an einem Ort gibt, den man zu verlieren fürchtet, oder wie es sich zurücksehnen lässt zum „kirschkernespucken im görlitzer park“ oder dahin „wo wir Finger verschränkten“.

Auch der Auszug aus der Kindheit anhand der Orte, an denen man nachts wachliegt, hat uns im Mai begeistert, ebenso wie der Versuch, sich England einmal magnetisch vorzustellen oder der Vorgang, wie Poesie aus einem Sehnsuchtsort ein Sehnsuchtswort macht.

Wir gratulieren Antonie Beckmann, Emma Joerges, Lara Klatzka, Rosa Lobejäger, Anna Thommes, und Fanny Walger zum Monatsgewinn im Mai!

wo meine Kindheit liegt

Antonie Beckmann
2003

die Zeit steht still 
im Hauch von Blau
ein leises Summen in der Abendluft
wo meine Kindheit liegt
nackte Füße auf warmer Mauer
Johannisbeeren mit Zucker
jetzt werde ich erwachsen und du wieder ein Kind
die Uhren ticken und die Wand surrt
während ich die Haut betrachte
die sich über deine Knochen spannt
dein Garten blüht 
wie jedes Jahr
während du verlernst zu sprechen
und mir mit deinen Augen sagen willst
dass du keine Kraft mehr hast
ich schaue zu wie die Blumen wachsen 
und kann nicht begreifen wie etwas so 
schön und schmerzhaft ist

hier steht die Zeit still 
im Hauch von Blau
aus Vergissmeinnicht
im Garten hinter Omas Haus

kinderzimmer

Emma Joerges
2001

& ich habe unter meiner bettdecke geweint bis ich durstig war & dann wollte ich weglaufen für immer & habe es dann doch nicht getan & dann habe ich die weißen wände gelb gestrichen & habe nachts sternschnuppen durch das dachfenster beobachtet & tagsüber den sturm & habe auf dem roten teppich gelegen & gewartet & nur ein wort gehört & laute stimmen aus der küche & habe vermisst & nicht gewusst was & dann habe ich keine stimmen mehr aus der küche gehört & kein wort & gewartet & habe auf dem blauen sofa gelegen & habe tagsüber cumuluswolken durch das dachfenster beobachtet & nachts den vollmond & dann habe ich die gelben wände weiß gestrichen & dann wollte ich bleiben für immer & habe es dann doch nicht getan & ich habe unter fremden bettdecken geweint bis ich durstig war

sehnsuchtswort

Lara Klatzka
2003

in der tinte:
wenn dunkelblau und flüssig ich seltsam
entkörperlicht und seltsam vollkommen
aus mir heraus
aufs papier fließe
in den worten:
die von tränen geschrieben von trieben
tief eingeritzt in die wände meiner seele
in felsklumpen die zunge beklemmen
und die kehle zubröckeln
in den sätzen:
die eingegraben in raue seiten
blutig abgerupft in fetzen
in den tauben ohren dröhnen
die in scherben auf dem boden liegen
in meine toten finger schneiden
in den texten:
haltlos hingekritzelt voller fehler
voller panik voller schreie
die unlesbar mich anstarren während der
handballen krampft
und zähne löcher in die zunge schlagen
verzweifelt die
anarchie in mir vergitternd
in den tastaturen:
in ihrem klapprigen gesang
leertasten lücken auf den
bildschirm hämmernd wenn ich selbst mich
verachte
und die idee in der hitze hinter den augäpfeln
verschwimmt

in diesen meilenweiten zeilen
geschrieben um zu fühlen
sterbe und lebe ich
mit jedem wort ein wenig mehr
finde ich die flucht
den frieden abseits von welten
die liebe die ich nicht in spiegeln sehe nicht in
bildern nicht in blicken
hier wohnt mein sieg und untergang
mein ursprung und ende:

einzig in ihnen liegt die freiheit

die blasse stadt (julinacht)

Rosa Lobejäger
2003

das licht rotzt immer noch aus dir 
ich will mich aus meiner haut schälen 
auf riffen blankziehen den abend
triefen lassen aus allen poren 

der starre blick der sich glitzernd
in glasfaserkabeln verhakt 
lärm
schlängelt sich durch nervenbahnen
dröhnt; hallt nach 
flimmernde großstadtekstase
zwischen u-bahn-station und laken
da schlägt alles mit das pulsierende
das warme 

das der fluss ausstrahlt
stehen die arme ausbreiten spreeblick
was man in berlin nicht verlieren kann: 
sich selbst, alles andere schon, 
den blick fest gerichtet auf den löchrigen himmel
baden in erinnerungslücken
samtblau muss es gewesen sein das 
kirschkernespucken im görlitzer park das 
zusammenstecken von lebensmodellen 
auf deinem bauch da war ein puzzle 
aus lauten das ich aß damals
als wir uns die stadt bauten aus 
tarotkarten als wir julinacht waren

und ich schweige weil in dir sowieso alles
vibriert
das entwirrt die gedanken die basslinien 
die käfer die sonnenflecken das curry
das fett an deinen fingern der versuch
zu poetisieren was sich nie festhalten ließ
die blasse stadt die sanft an meinen 
haaren zieht

Fingerkettenträume / Weißt du noch?

Anna Thommes
2005

Verschränkte Fingerketten
Haben sich verloren unter
Versäumten Mitternachtsglocken
Und wie sich windende Schlangen,
So schön wie wilde Wassertänze,
So wickelt sich Hand um Hand,
Haut um Haut.
Vergessne Sommerträume
Haben sich unter Sehnsuchtsworte gemischt
Von Sternennächten in sanften Regentropfen
Im Tanz wie eingebrannt
Wie Tau auf nackter Haut.
Ein Himmelsgewölbe,
Azur, an manchen Stellen Kobalt,
Schwarz, mit hellen Punkten.
Blau, mit grauen Flecken.
Grau, mit weißen Feldern.
Verschränkte Fingerkettenträume und
Verrenkte Gedankenverschlüsse,
Metamorphose und Synthese
Eins mit Eins, zusammen wieder Eins.
Das Lachen unter Eichenbäumen,
Da im hohen Gras
Da wo ich alles vergaß, da.
Weißt du noch?
Da wo wir Finger verschränkten,
Da wo wir uns verloren, unter
Versäumten Mitternachtsglocken?
Wo wir tanzen, wie sich windende Schlangen?
So schön wie wilde Wasserfälle
Gestürzt in Sommerträume.
Und jetzt wird wieder Sommer.
Ein Himmel, wie gemalt in Form und Farbe.
Weißt du noch?
Der letzte Sommer?
Und der nächste Sommer?
Und der übernächste?
Weißt du noch?
Die fallenden Sternenbilder und
Die sinkende Sonne,
Die verschränkten Fingerketten
In versteckten Farnhöhlen,
Lippen, versenkt in Tau, in Haut,
In lauer Sommerluft.
Arme wie Flügel,
Flügel wie Gedanken,
Flügel, endlich fliegen.
Im Sonnenblumenregen,
Stößt Nase an Nase und
Seele an Seele
Nicht vergessen,
Weißt du noch?

magnetland

Fanny Walger
2004

manchmal glaube ich, england ist ein magnet
england dreht jedes h+-molekül in mir in seine richtung /
jeder dendrit und alle rezeptorzellen
strecken sich nach england aus

manchmal glaube ich, ich bin sehn-suchterkrankt;
ich erfülle mindestens 2 von 11 kriterien ich verliere
die kontrolle ich verlange / ich drücke mich in den
dsm-v und wieder heraus wie in kleidung

ich muss meine sprachverarbeitung rekonfigurieren,
denn manchmal spreche ich mich davon /
1052 kilometer und dreieinhalb jahre weg von hier

in lichten momenten ereilt mich der gedanke,
dass ich mit dem ice nicht zeitreisen kann zu dem
tag als wir am fluss camus’ menschen wurden

und vielleicht projiziere ich hinein in england,
was zuhause gelöst werden muss (youtube-videos
wissen: sucht entsteht, um eine lücke zu füllen)

aber meistens glaube ich, ich bin nur ein körper,
der woanders sein möchte; durch magnetismus zwar
verformt aber nicht davongezogen / alle wege führen in die
welt, aber die wenigsten auch wieder zurück

Schreibe, um zu träumen.