Unsere Gewinner*innen im Juni 2022

Wettbewerb im Juni 2022

Wir gratulieren Anastasia Averkova, Julie Bielke, Cosima Bolinius, S. Eslek, Lena Riemer und Fanny Walger! Ihr seid die sechs Monatsgewinner*innen des Juni-Themas „um das haus errichte ich eine stadt“!

Im Juni haben wir euch das Gedicht „ein neuer see“ von Jana Volkmann vorgestellt und euch ausgehend davon dazu aufgerufen, selbst als Schöpfer*in tätig zu werden. Wenn ihr eine ganze Welt erschaffen könntet: Wie sähe sie aus? Mit euren Interpretationen des Themas habt ihr uns inspiriert, überrascht, unterhalten und aufgerüttelt. Ihr habt ganze Städte erschaffen und bevölkert:
„bei der nächsten kreuzung pflanzt man / die frucht die körper die stadt / auf dass sie wächst sich ausdehnt überquillt“.
Ihr habt euren Körper betrachtet und beschlossen „nur ich richte dieses haus ein“. Und ihr habt uns gezeigt, dass es manchmal sehr schwer ist, überhaupt etwas zu erschaffen: „ich war so ins einreißen vertieft, dass ich nie gelernt habe, etwas aufzubauen“

statt

Anastasia Averkova
2003

große wagen straßen eisenbahnschienen güterzug
das herunterladen von meinungen
die schreibung ist recht
der fall administrativ
die metrostationen
man übt sich im unterirdischen
die fahrpläne die ausfälle die eisenschienen
für verletzte
die pipelines
man übt sich im verdichten von gas
es fehlt der rohstoff zum heizen der seelen
wofür brennst du
die ausfallreaktionen
die gelben flecken
man übt sich im säen
löschwasser warmwasserleitungen befehle
man übt sich im fehler machen lassen
die räte die schläge die ratten die häuser
der bau die substanz das substantiv
die kranken die häuser die toten die gräber
straßen zäunen halbe viertel
das gehäuse
die stämme die bäume die blumen
wo
der schacht der zug die vögel
die strommasten die aaskrähe
mit kahlen flügeln
die käseglocke die kirchglocke
geplatzter asphalt pflastersteine
was in den sternen steht zu lesen verlernt
die nachtbusse
die nebelkrähen
frieden und schnee tauen lautlos
winternistplätze
es zieht in den westen

bei der nächsten kreuzung pflanzt man
die frucht die körper die stadt
auf das sie wächst sich ausdehnt überquillt

traumvariation II

Julie Bielke
2001

aus uralten benzinkanistern trinke ich rotwein
trinke rotwein wie wasser und schließe die augen im sommerregen

irgendwann – denke ich mir– irgendwann
liegen wir weinend im lavendelfeld
liegen wir weinend uns in den armen im lavendelfeld
und lesen mascha kaléko

wir denken daran, dass erich kästner uns versteht
und schließen die augen im sommerregen

es gibt keine nachmittage und keinen ort
nur uns, den duft und gedichte
wir liegen nahe einander zugewandt
und küssen uns die augen schläfrig

wir sonnen uns nachts im mondlicht
um tagsüber unseren schein zu bewundern

irgendwann – fürchte ich – irgendwann
liegen wir traumlos im lavendelfeld
liegen wir traumlos uns in den armen im lavendelfeld
weil alle träume angekommen sind

Schöpfung

Cosima Bolinius
2005

Du musst wissen:
es gibt einen Stein, weiß, kubisch.
Der ist berühmt, weil Homer darauf saß,
als er die Ilias schrieb.
Er konnte die Beschaffenheit 
der Länder gut beschreiben,
weil er in der Nähe lebte.
Nun sitze ich auf einem Stein,
den es gibt, weiß, kubisch
und erfinde einen Krieg,
der, von goldenen Körpern gekämpft,
aus der Senke der Hässlichkeit gezogen wird
und verschlucke mich
an meine Worten.
Ich schreibe die Brüder: Myrrhos, Anaeikles und
zuletzt Kyrrios,
die sich von Haut bis Knochen lieben
und dann hassen und bekriegen, weil ich
es so wollte auf Seite 73.
Den Krieg verliert der tapfere Kyrrios,
dann stirbt, müde des Kämpfens,
Anaeikles eingerollt im Wüstenstaub
und Myrrhos, einsam, träumt die Sterne 
und erhängt sich an der Milchstraße.
Sein Körper ist der Mond
und scheint hell, weil er uns nahe ist
und sein Blut tropft von der Stirn der Schöpferin
Matokeika
hinab und sammelt sich faul auf ihren Lippen.
Und rot gefärbt küsst sie den Himmel
und so geht zum zweiten Mal die Sonne auf,
nach dem ewigen Krieg der ersten Schöpfung
auf Seite 86 bis Unendlichkeit.
Jetzt ist die Welt nur eine Fläche, die in einer Leere ist
und die Tränen, die Myrrhos 
bei seinem Selbstmord weinte,
machen Furchen und finden Pfade
tief in unsere Erde hinein; das Meer ist da.
Pflanzen blühen und Tiere brüllen, zwitschern und trillern,
als Matokeika den ewigen Krieg der drei Brüder vergisst
und sich wieder wünscht, Materie mit Willen zu formen.
Denn sie ist groß.
Kyrrios Leiche badet nun im Meer
und das Morgenlicht umspült seine Brust
und er ist schön und ein Rabe
zerhackt seine Brust an diesem Schmerz und gibt sein
schillerndes Gefieder auf, um Matokeika zu opfern,
dass sie wieder solche Schönheit bringe
und deshalb gibt es dich und deshalb
ist der Rabe pechschwarz.
Anaeikles, gekrümmt in seinem Schmerz,
versteinert und sein Körper ist jetzt
ein Stein, weiß, kubisch.
Du musst wissen:
Homer hat die Ilias gar nicht geschrieben.
Er war blind.

die sache ist,

S. Eslek
2003

dass hinter dem damm das hochwasser wartet. die sache ist, dass ich kaum mehr schreibe irgendwie, und das halt immer so mein weg gewesen war, den damm zu brechen um zu verhindern, dass das wasser sich staut. aber ich war so ins einreißen vertieft, dass ich nie gelernt habe, etwas aufzubauen, verstehst du? und jetzt sitze ich hier in einer eklig lauwarmen badewanne voller wörter und ich kriege sie einfach nicht mehr zusammen, und sie trocknen auf meiner haut ein und ich kratze sie ab und sie machen den wannenboden dreckig. und ich bin dabei, alles neu einzureißen, die wanne, mein schreibheft, das haus und den zaun darum, die stadt und mich auch, und mich treiben zu lassen im fluss bis meine haut aufquillt und ich strande und trockne und vom steg gekratzt werde. mich mit dreck vermische und eine paste werde und matsch werde und an schuhen hafte, und danach an der straße, und über eine neue stadt verteilt werde, in die schlaglöcher sickere, und risse in den fassaden, eine wiese dünge, verweht werde, mich verliere wie ich meine wörter verloren habe. manchmal frage ich mich, ob sie schon ganz diesen körper verlassen haben.

und sich einen neuen geraubt.

[achtung das ist ein überfall]

Lena Riemer
2002

ich sage: achtung das ist
ein überfall
HÄNDE HOCH
ich verletze niemanden
ich fordere einzig
meinen körper
ich sage: dieser körper
ist ab heute privateigentum
gesperrte zone betreten verboten
KEEP OUT
ich sage: das hier ist
eine privatisierung
ich entziehe meinen körper
jetzt ganz langsam
dem freien markt
zerre ihn aus der unsichtbaren hand
FUCK YOU ADAM SMITH
ich sage: hallo das ist eine
besetzung
20 jahre lang
hab ich diesen körper besetzt
hab ich in ihm gesessen
jetzt gehört das alles mir  
und nur ich richte dieses haus ein
dass wir uns nicht falsch verstehen
ICH ALLEIN
ich sage: niemand niemand niemand
NIEMAND
kommt auf dieses grundstück
kommt in mein haus
bekommt mitspracherecht
an der inneneinrichtung
an den umbauarbeiten
bekommt das recht
hand anzulegen
an garten fassade oder pforte
ich sage: waffen runter
und langsam
zurücktreten
ich nehme jetzt diesen
körper
mit
und dann bin ich weg.

homunculus

Fanny Walger
2004

aus calciumstücken baute ich das gerüst wie das einer brücke,
schob teil um teil zusammen und betrachtete
seine zweidimensionalität; ich entschied, dass es nicht reichte

und so suchte ich im marmor nach klebstoff oder füllmaterial
ich zog fasern, formte, schnitt und bediente mich
seiner theoretischen viskosität als wüsste ich, was ich schuf

in ekstase gab ich diesem roten körper blitzlichter und ich
gab ihm mehr lebendigkeit als in einer puppe steckt
stieß zwischen seine muskeln, was pulsieren kann

und ich legte schläuche von einem ende zum anderen
riss ein paar fenster und betrachtete die kumulation
meiner schaffenskraft, die kunstfigur, die die starrheit

ihrer puppenaugen durchbrach und mich betrachtete
homunculus stand auf und überquerte den tisch also baute ich
ihm ein gewächshaus und nähte einen anzug, dann stellte ich

ihn auf die fensterbank wo er betrachtet und gezeigt wurde,
ich setzte ihn immer zurück in seinen kasten, anfangs
sanft und später wütend; dunkelte die fenster ab, dass

er nicht lernte, was außerhalb des marmors erlebbar war
ich zog ihn anders an, wenn ich es wollte und verbog ihn,
wenn ich mich langweilte; bis ich mich selbst erinnerte

an kinder, die das interesse an ihrem spielzeug verloren hatten
manchmal ging ich noch an seinem haus vorbei und merkte
nicht, dass es gewandert war; an meinen wänden hatte er

gezeichnet und als ich ihn zurück in seine vitrine setzen wollte,
trug er andere kleidung und sein körper war mit ton modelliert
homunculus hatte sich eine tür gebaut und eine leiter

und so suchte ich nach calciumstücken für ein neues gerüst
schob teil um teil zusammen und betrachtete seine
zweidimensionalität; ich entschied, dass es nicht reichte

Schreibe, um zu träumen.