Unsere Gewinner*innen im September 2022

Wettbewerb im September 2022

Wir gratulieren den Monatsgewinner*innen im September! Herzlichen Glückwunsch, Alexandra Barth, Meera Bhagwati, Anna Sophie Born, Lisa Jacobs, Fanny Walger und Amely Wernitz! Ihr konntet die Jury mit euren Gedichten zum Thema „bergen“ überzeugen!

Dabei ging es um die Fragen: Worum lohnt es sich zu kämpfen? Wenn die Erde bedroht ist, wie lässt sich darauf reagieren? Mit Resignation, Wut, Einsatz? Eine mögliche lyrische Auseinandersetzung zu dem Thema haben wir euch mit Rike Schefflers Gedicht [bergen — was ich nicht zurücklassen kann:] an die Hand gegeben. Eure Interpretationen des Themas zeigen, dass es vor allem Beziehungen und das Bewahren von Erinnerungen sind, für die es sich eurer Ansicht nach zu kämpfen lohnt: „ich lass alles hier, für noch einmal / tequila sun bar rises mit dir“. Wie kann man aber etwas retten, das so flüchtig und stets im Wandel ist? Eintüten? „ich sitz im fensterlosen badezimmer packe dinge in zip bags: / – mammutbäume / – agaven / – wie wir gelernt haben, wieder freunde zu sein / – tropfsteinhöhlen /- der glitzderdarm von kompaktkassetten / – saure-kirsche-kotze. Und letztendlich geht es auch darum, sich selbst zu bewahren, zu retten, zu bergen: „gemäß meiner geschrumpften zellen zog ich mich in mir zurück / begann in den geborgenen resten / mich zu bergen / stück für stück.“

zip bags

Alexandra Barth
2003

wo bist du gerade?
wieder zwischen wutausbruch und traurigkeit.
sag, wo soll ich anfangen mit dem abschiednehmen?
wie lang wird es mich ziehen?

ich sitz im fensterlosen badezimmer packe dinge in zip bags:
– mammutbäume
– agaven
– wie wir gelernt haben, wieder freunde zu sein
– tropfsteinhöhlen
– der glitzderdarm von kompaktkassetten
– saure-kirsche-kotze

wir liegen nebeneinander in unsrer panik und krallen uns an unsrer letzten hoffnung fest. wir ignorieren die künstliche beatmung, weil wir weder platzen wollen, noch können.

schmale blaue reißverschlüsse schließen:
– schwarzes-meer-wasser
– blausäure, blattläuse
– das gefühl, wenn man zu schnell zu viel luft einatmet
– gedichte von selma merbaum
– mischwälder
– fundstücke im park

heute sitzen wir da und denken an nichts. nicht mal daran. an nichts, hab ich gesagt! es fühlt sich nicht so an, als würden wir uns belügen, es ist einfach nur sehr weit weg, wie saxophonklänge.

neue plastiktüten gekauft, kurz vor ladenschluss:
– trinkschokolade
– zartwandige porzellantassen
– neuschnee, den es nicht mehr gibt, tucholsky!
– zitronenfalter
– regen auf asphalt, der süß ist und nicht sauer
– elektrisches licht, und das abendliche licht auf häuserwänden

wir liegen uns in den armen
wo warst du gerade?
supermarkt. sie waren ausverkauft.
sag, wie lang kann so ein abschied dauern?
können wir heute im bett bleiben?

fragmentiert

Meera Bhagwati
2004

1.

„wir legen uns auf das gras,
das früher eine wiese war und nun
wie sand und fels unter uns sticht.
sehen auf die stadt,
die trüb leuchtet und das wasser aus dem see
im nächsten ort zapft um seine gebäude sauber zu halten.

über uns breitet sich die ewigkeit aus –
lauter himmelsfetzen
von fingern und fett ungetrübt
rot, gelb, blau
der ursprung, der urgrund, die wurzel,
fest verankert im stoff der zeit.

unter uns krümmt sich der große bauch,
vergiftet.
sie würgt, weint,
dreht und dreht sich weiter,
vergräbt den kopf in sich selbst,
denn sonst ist da nur die leere.
das zwerchfell zittert leicht.“

2.

wir haben horchen müssen
wie sich unsere väter und die mutter stritten
und haben uns unter der bettdecke versteckt,
wo man nichts sieht
und nur hört wie die geschwister leise murmeln, rollen, tollen,
die ritzen und löcher mit nassen lappen stopfen.

vielleicht haben wir uns vor der wut der mutter gefürchtet,
vor der wut der väter, wenn wir in die arme unserer mutter geflüchtet.
wir fürchteten uns vor dem nächsten ausbruch und so schrieben wir eine liste.
wir schrieben auf, dass wir das haus von oben bis unten fegen,
wir räumen alles auf, der boden wird glänzen,
die spiegel und die fenster werden geputzt so gut es geht,
das essen gekocht, das geschirr gespült,
denn so wollten es die väter und auch die mutter verlangte nach einer geordneten welt.

nun will die mutter nichts mehr von uns
und lange haben wir sie nicht mehr gesprochen.
die väter klopfen uns auf die schulter und sagen stolz,
dass der apfel nicht weit vom stamm falle,
und man lächelt verlegen und versucht sich daran zu erinnern wie äpfel wachsen oder gewachsen sind
und kann nur an das hemd denken,
was die mutter so oft trug und doch das so gut roch.

3.

vor einiger zeit habe ich meinen balkon bepflanzt
mit dem was noch übrig ist.
unkraut: löwenzahn, giersch und nessel.
beim ersten mal sind alle pflanzen gestorben
und in meiner hand hielt ich das feuerrote telefon und wollte meine mutter anrufen.
alles was sie heranzog ist am leben geblieben.
(allein als sie einmal verreiste starben sie unter der hand unserer väter.
schon damals reagierte sie bei ihrer rückkehr mit stiller resignation
und trauer um ihre pflanzen
und schwieg die väter an.)

ich kann nicht sagen, wieso ich letztendlich nicht anrief.
vielleicht war es scham, die angst vor einem schweren endurteil.

 

4.

als mein vater starb habe ich mit meinen brüdern und schwestern das haus geräumt.
dabei habe ich eine kiste gefunden, dort waren begraben:
getrocknete blumen, gepresste,
ein knochen,
staubklumpen,
ein orange, mit nelken geschmückt,
ein spielzeug aus holz, geschnitzt und ein tier nachbildend, dessen name ich vergessen habe,eine zeichnung aus kohle – sie muss als letztes hineingelegt worden sein – auf der man alle geschwister erkennt,
ein päckchen mit blumensamen, die mir meine freundin einmal schenkte, fest überzeugt davon, dass ich einmal gärten und gärten besitzen würde.

lange starre ich hinein, in die kiste,
sie liegt auf meinem schoß und schlägt auf meine überkreuzten beine.

zuhause stecke ich die samen in die erde und lese die rückseite der packung, auf der genaue anleitungen stehen, so oft, bis ich sie auswendig weiß.

5.

wir haben begonnen uns auf der alten wiese hinter dem haus zu treffen.
dort verflechten wir unsere finger in trockenem geäst, das sich starr über erde zieht,
fast als bestünde das gewebe aus nähten, die die risse im boden davon abhalten wollten, sie zu zerreißen.  

kleine sprösslinge nähren die erde hier und dort.
wir haben die samen gepflanzt
und sie zusammen herangezogen
und sie leben noch.
sie werden nicht neu geboren,
sie sind surrogat für eine längst gestorbene welt.
wir stoßen auf wunden in der haut der erde,
die eitern und entzündet fiebern und versuchen sie zu heilen.
das gift, das unsere väter schon ausstießen
und aus dem fleisch der erde zogen,
ätzt sich in unsere lungen und wir husten es aus
bis die luft wieder klar ist.
die gebohrten wunden schließen sich.

von zeit zu zeit wache ich nachts auf,
und renne hektisch zum balkon,
kann erst wieder, zögerlich,
ins bett, unter die decke,
wenn ich mir sicher bin, dass jede pflanze lebt.

es gibt nicht mehr viel,
aufs neue holen wir uns das, was wir brauchen,
denn mehr gibt es nicht und es ist auch genug.

unter einem haus, was in der stadt zusammengebrochen ist,
fanden sie kopflose wurzeln, enthauptet.
es war das haus eines vaters, der seinen kindern so obdach bot.

lange haben wir überlegt, wie wir ihr gegenübertreten sollen:
schamvoll, um entschuldigung bittend,
empört, wütend.

‚wir werden die verbrechen (wissentlich, willentlich)
unserer väter ins reine bringen.‘

ähnlich der liste, die wir als kinder schrieben,
fassen wir nun grundsätze, die erde, ihr herz, zu hüten –
das grab unserer väter löst sich darin auf
und die erde nimmt alle und jeden und frisst den groll,
schluckt ihn unumwunden.
das herz unserer mutter ist der frieden, die vergebung.

wir fragen uns, ob es die ewigkeit geben kann,
unantastbarkeit, die kraft unverwundbar zu bleiben,
und versuchen wieder und wieder den himmel einzufangen.

wir legen uns hin, sobald es möglich ist,
die wüste sprießt nun,
ein bett aus klee und gras
und hier ist es hell und wenn wir den kopf
an den bauch der mutter legen
hören wir ein schwaches zittern,
ein ruhiges, leises flimmern.

metamorph

Anna Sophie Born
2004

jemand sagte mir, man müsse anfangen, die welt zu retten.
ich ging also los, im wasser ist das leben entstanden und so fing ich
mit dem wasser an. über körperöffnungen nahm ich die ozeane in mir auf, 
ich spürte wellen, sie schlugen von innen gegen meine brust und langsam
begann sich alles zu vermischen. bald wurde ich schwer
(das meersalz und die minerale meines eigenen gewässers)
und auf dem weg in die gebirge: der gedanke an den segler
aus dem nahen hafen. die sweet salty hatte anker geworfen
in meinem gemischten inneren gewässer und konnte nun die tiere bergen.
schwer beladen ging ich ins gebirge, ich wanderte, die meere in mir,
bis zur sichtung gräulicher gesteine. unmöglich, berge zu bergen, die masse
und scheinbar keine verformbarkeit doch da dachte ich an metamorphite,
sich verwandelndes gestein
(anmerkung des verstandes: felsenfest, fels in der brandung, steinhart, zu stein
erstarrt-
der verstand versteht nicht immer genug)
ich wartete jahre und jahrzehnte auf produkte der erosion 
alles abgetragene fügte ich meiner masse hinzu.
gebirge falteten sich langsam in mir auf und wurden von meinem wasser geformt
gegen die falten wirkte anti-aging creme, geborgene berge bargen das meer.
wie aber bergen, was immer verborgen war:
sprechende freitagnachmittage, emotionen F.s,
die sichtung pakistanischer briefe
berührungen L.s
der mensch N.
die angst vor langsamer verblassung löste erdbeben in mir aus.
erschüttert wellten sich meere wie seen und mein inneres gebirge
verlor den ehernen halt
nie konnte ich der geborgenheit des unstofflichen sicher sein.
als jemand von plasmolyse und meinem wasserhaushalt sprach,
begann ich zu sinken. meine meere zogen mich auf ihren grund hinab
gemäß meiner geschrumpften zellen zog ich mich in mir zurück
begann in den geborgenen resten 
mich zu bergen
stück für stück.

tequila sun bar rises

Lisa Jacobs
2004

SCHUTZMECHANISMUS EINLEITEN
an den Notafallplan halten, aufteilen, Imprägnierspray raus, spühen!
EVAKUIEREN
Mission gescheitert… alles zerfällt…
Schachmatt was nun?           


                                           
                                                   WAS TUN?

Will alles mitnehmen, soll mir nichts wegnehmen

            du willst nicht mitgehn also geh ich alleine
noch einmal tequila sun bar rises mit dir
noch einmal alles geben
noch einmal im Einklang sein mit mir
noch einmal Leben leben


                                                                        TEQUILA SUN BAR RISES


            du willst nicht mitgehn also pack ich alleine
ein Kopfsalat für die Hasen, die Rosenkohl hassen
eine Schwimmente für die Seerobben, die über den See robben
eine Brille für den Seestern, damit er den Stern sieht
und ein tequila sun bar rise für mich


                                                                           TEQUILA SUN BAR RISES


            du willst nicht mitgehn also such ich alleine
einen stillen Platz zum letzten mal inne halten
einen Früchtebaum zum letzten mal Früchte klauen
einen tequila sun bar rise zum letzten mal sun bar allein
einen letzten Gedanken zum letzten mal denken


                                                                           TEQUILA TEQUILA SUN BAR RISES

 

du willst nicht mitgehn doch ich will dich mitnehm
ich lass hier Platz für uns beide
alles was ich brauche ist die wichtigste Person für mich
alles was ich brauche sind die Gedanken an dich
Erinnerungen für dich und mich


                                                                        TEQUILA SUN BAR RISES

 

            willst du mitgehn?
ich lass hier Platz für uns beide

 

 

ich lass alles hier, für noch einmal

tequila sun bar rises mit dir

                                                                                   ich will das nicht ALLEINE

 

 

 

ret·ten

Fanny Walger
2004

Präteritum: ret·te·te, Partizip II: ge·ret·tet
schwaches Verb

1. aus einer Gefahr befreien und dadurch vor Tod, Untergang, Verlust, Schaden oder Ähnlichem bewahren.

2. alles auflösen, was ich als erstrebenswert kenne.

3. glücklich sein.

im Wald bin ich Fremde*r in der Stille, die alles
hinterlassen hat, das vor mir geflohen ist. zwischen
mir und dem Einklang liegen Kleidungsstücke in
Farben, die die Umgebung nur besuchen, trennen
von den Bäumen und dem Matsch und den Menschen,
die die Welt ohne Pfade kennen. hier ist das Laub
auch im Sommer braun. in meinen Ohren klingelt das
Telefon meiner Eltern und erinnert mich, was ich retten
müsste. wovon ich mich nicht trennen kann: das
Trottenkreuz, die Kirchenglocken im Tal, Notizbücher,
das Geräusch von Sprachen, die ich nicht verstehe.
CDs mit Textheften, fremder Menschen Schrift in alten
Büchern, nächtliches Fahren, Postkarten. ich muss mich
mit der Welt auf einen Klang einigen, der wir alle
werden können; Walgesänge, das Wort „Trauermücken“
oder Schweigen vielleicht. was ich mich frage: wann
jemand zum ersten Mal „Weltschmerz“ gesagt hat, ob
in Höhlen dasselbe Unglück gelegen hätte, wie man
Treibholz wird. ich wäre gerne Sammler*in, aber auf
kurzen Strecken ist mein Atem stärker als der Wind.

Synonyme zu retten: bergen.

ausgrabung zweier mädchen mit langen fingernägeln

Amely Wernitz
2003

im taschenlampenschein steigen wir barfuß ins gras und
folgen dem zittern unserer zehen zum maulwurfhügel.
lass uns graben, sagt janne (janne, die immer so still war)
sie hält die taschenlampe, ich grabe meine finger in die feuchte erde.
papa kämpft für englischen kunstrasen gegen die maulwürfe,
wir haben das erdloch vom balkon gesehen und dachten: rettung.

als das loch immer größer, jannes atem immer kälter wird,
stecke ich erst einen, dann den anderen fuß hinein
wo wir uns verstecken vor dem auslaufen unserer jugend
weil unsere zukunft hier nicht dunkler werden kann,
wo wir eine allianz schmieden wollen mit den leichen des gartens.

wir kommen hier nicht mehr raus, sagt janne, fädelt sich zu mir hindurch
ich nicke, egal, denn regenwürmer schlängeln sich über nackte oberarme.
dann sind wir hier zuhause mit allem anderen, was sterben musste.
wir flechten erde in unsere haare, lecken sie von unseren lippen, bleiben;
meine hände, schließlich, stoßen auf wasser.

Schreibe, um zu träumen.