Unsere Gewinner*innen im Oktober 2023

Wettbewerb im Oktober 2023

Im Oktober solltet ihr uns einen poetischen Brief an eine*n Unbekannte*n schreiben! Dabei konntet ihr eine historische oder berühmte Person befragen, euch Menschen aus eurer Familiengeschichte widmen oder auch Personen, die an bedeutenden Ereignissen beteiligt waren. Wen würdet ihr befragen wollen, wenn ihr es könntet? Inspiration gab es unter anderem von unserem Monatslyriker Tillmann Severin und seinem Gedicht „an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird“. Mit ihren lyrischen Briefen überzeugen konnten Alexandra Barth, Emilia Franke, Yasmin Hisir, Katharina Scheipner, Fanny Walger und Marie Helene Zwicker. Wir gratulieren ihnen herzlich zum Monatsgewinn! Ihre Briefe gingen „an eine [von] sieben doppelgängerinnen“, an jemanden, „der vor[her] hier im Dachgeschoss gewohnt hat“ oder „an den lebendigen? verhüllt von silberglanz“ – seid gespannt! Wir wünschen euch allen viel Spaß beim Lesen!

An jemanden, der vor mir hier im Dachgeschoss gewohnt hat

Alexandra Barth
2003

An einem Sonntagnachmittag im Herbst
bist du eingezogen, richtig?
Oder ist es noch Spätsommer gewesen,
als du morgens von Betrunkenen
unten auf der Straße geweckt wurdest?
Wovon hast du
in der ersten Nacht geträumt,
waren es auch rauchende Hunde?
Wurdest du im Treppenhaus
vom kleinen Köter angekläfft?
Kam der Tabakrauch aus dem Flur
durch die Ritzen deiner Haustür geweht?
Was in Gottes Namen
hat dich in diese Stadt verschlagen,
diese blutenden Buchenhecken?

Hast du abends auch am Fenster gesessen
und auf das Treiben an der Tanke geblickt,
darauf wartend, dass jemand aussteigt
und den Laden leerräumt?
Hast du den Nachbarn aus der Zweiten
Blumen von Lidl mitgebracht?
War die Kastanie vor dem Kippfenster
schon damals groß genug, um ihre
blättrigen Finger nach dir auszustrecken?
Bist du morgens mit den Lichtflecken
an der Wand zum Bad aufgewacht
und gegen den Türrahmen getaumelt?
Hat dein Kühlschrank bläulich gebrummt?
Wie kam das mit den Fugen in der Tapete?
Und ab wann warst du hier zu Hause?

Hast du dir manchmal eine Katze gewünscht?
Wo genau stand dein Küchentisch?
Wo hast du gesessen und beabsichtigt,
an niemand bestimmten zu denken?
Hast du nachmittags Kerzen entzündet,
um weniger heizen zu müssen?
Wie viele Jahre hast du hier gewohnt?
Hattest du gelegentlich Besuch,
der über Nacht blieb und früh gegangen ist?
Du saßt dann morgens schweigend
in der Küche und hast Kaffee getrunken,
stimmt‘s?
Hast dich manchmal nach dem Meer gesehnt
oder den Bergen.
Eine Stadt in dir nachbluten lassen.

an den lebendigen? verhüllt von silberglanz

Emilia Franke
2004

in der täglichen menschen augen
jener die sich verblenden wie vertreiben lassen
von deinem silberglanz
oder jener die kurz staunen und betreten wegsehn
weil manche man nur sieht wenn sie
in prunk und farbe duschen

du da drunter, sag, bist du einsam?

 

auf einem jakobsweg gen bühne
gen x – gen y – gen z –
bis sie dich sehn
und wenn sie dich dann sehn
imprägniert und sprachlos weitergehn
und deine kunst oder gar dich selbst verstehn

du da drunter, sag, bist du müde?

 

von einer welt die an dir vorbeizieht
im glauben an einem laternenpfahl vorbeizugehn
oder von einer welt die vor deiner erscheinung flieht
in der angst deine kalte eisenhand auf ihrer schulter zu spürn
und von einer welt der desillusion am abend auf deinem weg nach hause
während du gleich darauf auf ein neues deinen körper in flüssiges metall tauchst

du da drunter, sag, wieso?

 

bring mir die askese bei
wie du stehst
stocksteifstarr
wie du sprichst
sprachenlos sprachenvoll
wie du bist
ohne zu essen, zu trinken, zu atmen –

du da drunter, sag, lebst du noch?

 

bist du eigentlich ein mensch
wie andre menschen, mit andern menschen
und kannst du ohne silber leben
wie andre menschen nicht
und was tust du in deinem verlies
oder bevor du morgens von innen abschließt

 

du da drunter, sag, wer bist du?

 

meine augen prallen ab
an dir spiegel mit geheimtür
während deine röntgenaugen
im ursprung der illusion
mit klarer sicht die welt beobachten
und alle menschen ohne spiegelschutz von innen

du da drunter, sag, was siehst du?

 

ein kurzer augenblick der menschen
der dein leben mit sinn erfüllt
oder sperrst du dich ein mit dir selbst
der ganze tag ein me-date
das muss schön sein über der zeit zu stehn
und über hunger und schmerz

du da drunter, sag, darf ich auch mal?

Berg in Anatolien

Yasmin Hisir
2006

Sag mir wie die Sterne wandern
hinter deinen Ohrläppchen
Fleisch der Tulpenblüten
deine Lippen 
tragen Abdrücke von Sommer und Meer
Lichtritzen auf den Unterarmen
schau ich in die Dämmerung
schwarze Innereien flattern an der Wäscheleine
Schwalben
graben Umbrüche in die Wolken
Was macht das schon?
Burgen aus Haut 
wie Eis wie blaugefrorene Körper in der Nacht
deine Rippen
brechen aus den Wänden
ein Schuppentier ist die Stadt
vor deinen Füßen
aus Lichtern genietet 
aus Kinderhänden
die damals Kenger wie Sand aus deinen Augen pulten.

ich kaue diese Kaugummis nachts
und weine dann
manchmal

hörst du mich?

brief an eine meiner sieben doppelgängerinnen /an die frau, die mein gesicht trägt

Katharina Scheipner
2005

wache mit tränen in den augen 
auf. der rotwein färbt meine lippen 
ein, du hast dieselben. tragen wir 
machmal den gleichen lipgloss ohne es zu ahnen?
ich sehe sie in ihrem wintermantel, 
sie lebt ihr leben allein. habe keine 
metaphern dafür, wie sehr sie 
mir fehlt. kennst du das. der hunger 
unseres brustkorbs, ist er derselbe?

will mir meine synapsen ausreißen. würdest 
du mir verzeihen, wenn ich es täte.
würdest du es mir verzeihen, wenn ich
dich fände. um unsere ähnlichkeit
zu überprüfen. um mir mal selbst 
in die augen gucken zu können. 
hast du dasselbe vermissen? bist du 
nie deine eigenen fingerabdrücke leid?

entgleisen deine gesichtszüge 
auch, hast du auch das bedürfnis, dich im 
kleiderschrank zu verkriechen und 
nicht herauszukommen? nicht mal, 
wenn dich jemand sucht. zweifelst 
du denn nicht, zweifelst du 
wie ich es tue? wenn sie dich 
sehen würde, könntest du mir von ihrer 
mimik erzählen, könntest du dich 
für mich ausgeben? du kannst auch
meinen namen haben. möchtest 
du meine kleider tragen, sie passen 
dir, ich schenke sie dir. lachst du 
wie ich? trägst du deine haare wie
ich es tue? sind wir dieselben?
würde sie es erkennen, wenn eine 
fremde vor ihr steht? an die 
frau, die mein gesicht trägt, bitte 
antworte bevor ich das gleichgewicht verliere.

wie sah dein name?

Fanny Walger
2004

bin ich schon einmal einen schritt
gegangen, der deinem glich:
wie war dein klang.
wie sah dein name

auf dem briefkasten aus
& wie konntest du leben hier,
ohne die gelbe tapete, ohne den
holunder & papas schubkarre.

zähltest du
die treppenstufen (vierzehn),
die weberknechte in den ecken (sieben),
die schritte bis zur mutter (zehn),
arten, auf die rauhfasertapete zu schauen,
die äpfel am kleinen baum,
am großen baum,
dein wachstum an einem balken;
zähltest du auf dein verlassen hin.

& als es kam, haben die dielen
genauso friedlich unter dir geknarrt.
sahst du auf dem boden nach,
ob deine schuhe in die fugen passen.

an das mädchen vor mir

Marie Helene Zwicker
2003

mit umzugskartons beladen
stolperte ich beim einzug
über deinen namen
er prangte regennass 
auf einem glänzenden quadrat.
dein name steht auf dem boden
vor meinem haus.
wem hast du hier liebesbriefe geschrieben?
wie viele kinderfüße trippelten durch das treppenhaus?
war das hier dein zimmer
und sahst du auch so gerne auf die eiche heraus?
welche geheimnisse wohnten in den stuckverzierten ecken
ließt du die spinnen in den zimmerdecken leben?
welche gläser zerklirrten auf dem buchenparkett?
welche dramen beobachtest du an winterabenden in den nachbarsfenstern?

in diesen altbauwänden werden meine träume neugeboren
und du wurdest einst allen beraubt.
die eiche im innenhof
hat all das überdauert
wacht über die weißen wände und taubenleichen.

Schreibe, um zu träumen.