Unsere Gewinner*innen im November 2023

Wettbewerb im November 2023

Wir gratulieren Banu Beinhauer, Viktoria Ganahl, Mia Grüter, Jana Müller, Angelina Schülke und Lotta Schütte! Ihr seid die November-Gewinnerinnen in der Altersgruppe 15–20! In diesem Monat brauchten wir passend zum Thema „riechen Sie“ eure Nasen: Wir haben euch um euer ganz persönliches „Geruchsgedicht“ gebeten, inspiriert von Mara-Daria Cojocaru und ihrem Text „Multispezies-Poesie (vom Typ 3.1) in zehn Schritten. Eine Anleitung“. Welche Herangehensweisen, vielleicht auch ungewöhnliche, fallen euch ein, um Duft oder Gestank in einem Gedicht entstehen zu lassen? Das und mehr haben wir euch gefragt und umso mehr haben wir uns über eure „duftenden“ und „übelriechenden“ Gedichte gefreut. Ihr habt über den „geruch von alten häusern“ geschrieben und von dem Duft, der zwischen Buchseiten hängt, so dass die Nase „geschichten riecht“, über eine bestialisch stinkende Geruchswelle unter dem Bahngleis, „die beißt, die sticht, die zermürbt, die prügelt.“, aber auch über den „Neuköllner Nieselregennachtgeruch“ – Luft, die man nie wieder ausatmen wollte, „[w]eil sie nach dir roch“.

wenn es duftkerzen mit bücherduft gibt, wird eine vor deiner tür stehen

Banu Beinhauer

2008

weißt du noch?
graues sofa
bunte kissen
du saßt immer ganz rechts an der kante
zusammengezogene knie, als wärst du selbst gern eines dieser bunten kissen
weil dann alles viel leichter wär
ich, mit zwei kissen abstand neben dir
schneidersitz
ich weiß bis heute nicht, wie viel nähe zu viel war
wie viel raum zu wenig
du mit 6 kräuter tee,  blaue tasse
ich new york chai aus der grünteeverpackung
vielleicht steht der grüntee immer noch dort in dem plastikschrank
neben der nutella, die 2017 abgelaufen ist

weisst du noch?
diskussionen über kapitelnotwendigkeiten
mutierten zu kapitalismusstreitigkeiten
farbschnitt, unser symbol für die
oberflächlichkeit der menschheit
bücherregaleinordnungssysteme
ein kleiner akt der rebellion
du hast immer gewonnen
jede diskussion war auf deiner seite
ich frag mich bis heute, ob du ein guter verlierer gewesen wärst

weißt du noch?
momente der stille
ungewohnt in diesem raum voller wörter
und geschichten
momente des schweigens, weil kurz alle wörter stecken blieben
und ein leichter anflug von lächeln irgendwo
zwischen unseren zwei kissen
auf meines traf
ich habe nie gewusst, ob wie aus dem gleichen grund lachten

weißt du noch?
wie unsere nasen
bei jedem neuen buch zwischen die seiten wanderten
einmal reih um
einmal im kreis
ein bisschen büchergeruchswelten schnuppern
das war unsere droge

manchmal erwische ich mich dabei
wie meine nase wieder zwischen den seiten hängt
geschichten riecht
auf der suche
nach einem kleinen geruchsfunken von dir
der immer noch zwischen den zeilen fliegt

Dufte Exlibris

Viktoria Ganahl

2006

Exlibris: von lateinisch ex „aus“, und libris „den Büchern“

Dorian Gray riecht modrig, nach Toilettenpapier –
– auch wenn ich die teure Reclamausgabe gekauft habe
Die Bücher aus dem Bücherschrank süßlich abgestanden
wie die Schüsslersalze meiner Tante,
mehr oder weniger heimlich genascht
Der englische Gedichtband aus dem Gebrauchtwarenladen riecht auch süß
aber nach Wald und nach Staub, wie wenn es in der Nase kitzelt
wenn man durch eine frischgemähte Wiese läuft
Jane Eyre ist fast geruchslos.

Tigermilch riecht nach aussortierter Büchereiware und alten Kartons
Charles Dickens „Weihnachtserzählungen“ stinkt
Rupi Kaur riecht nach sauber geschnittener Pappe,
der Fänger im Roggen nach Schweiß – 
Schnell weg damit nach dem Lesen.
Lieber Daddy-Long-Legs erfrischend neu und nach Blumenladen,
aber einer von der Sorte, von dem einem ein bisschen schwindlig wird 
Den Geruch von Ronja Räubertochter vergisst man nicht.
Nachtflug von Saint-Éxupery: Glücklicherweise aus der Telefonzelle gerettet,
bevor sich der Gestank festsetzen konnte.
Kafkas Verwandlung: Undefinierbar. Am ehesten nach dem Gästezimmer meiner Oma,
das beste Zimmer im Haus, doch nur zum Trocknen von Kräutertee benutzt.
Looking for Alaska erinnert an Holunder und Sonnencreme

Duftend nach Übermut

Mia Grüter

2008

Wie rieche ich Krieg? 
Greife an,
mit allen Waffen, die du hast.
Feier bis zum Morgengrauen. 
Es ist endlich so weit. 
Atme mal tief ein und rieche den Stolz,
die Unbesiegbarkeit,
den fälschlich so schönen Geruch. 

Hätte es nicht so geduftet
nach Ruhm und Erfolg,
hättest du dann nicht mit Glanz und Gloria 
zur Waffe gegriffen?

Ja, jetzt sitzt du im Matsch.
Riech das Elend!
Ja, zieh es richtig hoch
und verkrümm die Nase.
Tu ruhig so,
als hättest du dich nicht auf die Geruchsprobe gefreut. 

Kälte, Schlamm, Angstschweiß,
Schmauch, Gas, Tod,
Trauer, Kampf, Hinterhalt,
dein Parfüm für vier Jahre.
Hey du wolltest doch wissen, wie es hier riecht!

Wenn du die Nase zuhältst,
kannst du’s dann immer noch riechen? 
Die verbrannten Leichen deiner Kameraden, mein ich
oder das eisenhaltige Blut des Franzosen an deinen Händen.
Bisschen unangenehm, nicht wahr? 

Der ganze Gestank zuviel für dich.
Der Geruch von Niederlage füllt sich in der Nase. 
Befiehl ruhig den Heimatschuss,
damit du Feigling deine Schuld
nicht mehr riechen musst.

Geruchswahnsinn

Jana Müller

2007

…Rezeptoren für dreihundertfünfzig verschiedene Duftstoffe

In den Riechsinneszellen der Riechschleimhäute.
Reize zum Riechhirn
Und weiter zum Hypothalamus ins
limbische System…
In der Unterführung unter dem Bahngleis schwappt sie mir jeden Tag entgegen, die Welle.
Eine Welle, die beißt, die sticht, die zermürbt, die prügelt.
Ein Geruch nach Fäulnis.
In dem langen Loch ist es dunkel und kalt.
Überall sind tiefe Pfützen.
Aus was sie sind? Sag es mir besser nicht. Bitte.
Es riecht nach Fäulnis, nach Urin, nach Kot, nach Tod.
Wenn ich am Ende des Tunnels meine Schuhe betrachte, rieche ich ihn immer noch.

Er ist wie ein Verfolger, wie ein Verbrecher, wie ein Mörder,
Er setzt sich in meinem Kopf fest.
In jeder Unterführung rieche ich ihn,
auch wenn es nicht die unter dem Bahnsteig ist.

Er nimmt mir die Luft,
mit einer kalten Hand drückt er meine Kehle zu,
ich kann nicht atmen, ich muss würgen.
Er bereitet mir mitten am Tag Alpträume, die meinen Kopf benebeln.

Er ist immer da. Er lacht hämisch, wenn er mich auf sich zugehen sieht.
Ich kann ihm nicht umgehen. Es ist der einzige Weg zur Schule.
Er genießt es, seinen fauligen Atem auf mich zu hauchen
und mein Gesicht grün werden zu lassen.

Er ist noch nicht immer da. Erst vor ein paar Jahren hat er sich hier niedergelassen.
Er wird immer wieder verscheucht, dann riecht es ein wenig nach Putzmittel,
auch das beißt in der Nase.
Doch er schleicht immer zurück und nistet sich ein:

Der mörderische Geruch, der Gestank unter der Brücke

der geruch von alten häusern

Angelina Schülke

2003

wir sogen den muffigen geruch der wände ein bis unsere lungen kapitulierten
vor beklemmender nostalgie
kam geborgenheit kamen honigfarbene nachmittage
kam der streit

zu ostern weidenkätzchen im flur
knotige hände entfernter verwandter
raue wangen geschichten vom feld
entbehrung damit wir es besser haben
filterkaffee vermischt mit schuld

Neuköllner Nacht

Lotta Schütte

2005

Es war Aufatmen.
Mit Luft, die ich am liebsten nie mehr
ausatmen
wollte.

Weil sie nach dir roch.
Nach Dönerbuden und nach Gras
nach Kanal und Gullischacht
nach Nieselregen auf Asphalt.
– Eben nach Neuköllner Nacht.
In der die nassen Straßen Spiegel waren
für die Lichter dieser Stadt. 

Ich wollte sie wohl verschlossen
aufbewahren
in einem kleinen Glas.
Diese frische Luft,   
die mir so warm bekannt
vorkam.

Das Glas trüge mich
in diese Nacht zurück, ich
könnte immer wieder aufatmen
mit Luft, die ich am liebsten nie mehr ausatmen wollte.

Aber jetzt
suche ich am Tag danach
nach dem fest verschlossenen Glas,
dessen Luft nach dir riecht,
nach Dönerbuden und
nach Gras
nach Kanal und Gullischacht
nach Nieselregen auf Asphalt.
– eben nach Neuköllner Nacht.

Was ich finde,
ist ein verblassendes Gefühl,
ist ein Glas ohne Luft.
Der Neuköllner Nieselregennachtgeruch
scheint einfach so ins Nichts zu fliegen
Genau wie der Duft,
den du trugst
und diese Nacht,
in der wir
so perfekt zu passen schienen.

Schreibe, um zu träumen.