wir wispern den Schreck zurück

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2023-12-31 24:00:00]]

Wettbewerb im Dezember 2023

Alle Decken und Kissen, die man finden kann, eine Taschenlampe, und vielleicht noch ein paar Möbel verrücken und sie ist fertig: die perfekte Höhle, gemütlich und endlich mal ganz nach den eigenen Vorstellungen eingerichtet. Die meisten Kinder lieben es Höhlen zu bauen. Irgendwann stellt man für den Rückzug in eine sichere „Höhle“ nicht mehr die ganze Wohnung auf den Kopf, sondern schließt vielleicht die Tür zu seinem eigenen Zimmer ab. Was aber, wenn der Alltagsstress zu groß wird, unsere Sorgen sich auch in unserem Zimmer nicht mehr ausblenden lassen oder wenn wir einfach selten allein sein können? Wie können wir uns dann einen Ort in unserem Kopf erschaffen, an dem wir uns sicher und geborgen fühlen?

In Krisenzeiten – oder vielleicht auch einfach nur in der dunkleren Jahreszeit – ist es wichtig, dass wir einen Ort haben, an den wir uns zurückziehen können. Habt ihr schon einmal überlegt, euch so einen Ort auszudenken? Der Vorteil an so einem mentalen Ort ist, dass man jederzeit dorthin „gehen“ kann, wenn man möchte. Und er lässt sich ganz nach den eigenen Wünschen einrichten, ausstatten und absichern. Diesen Monat rufen wir euch dazu auf, euch einen solchen Ort zu erschreiben. Vielleicht wollt ihr dazu ja noch einmal in eine „Höhle“ aus eurer Kindheit zurückkehren? Oder ein Baumhaus bauen? Oder mit einer Weltraumkapsel ins Weltall fliegen! Witzige Anleitungen zum Höhlenbauen hat IKEA vor einiger Zeit gemeinsam mit der Agentur Instinct veröffentlicht. Rechts seht ihr ein paar Modelle, die auch Erwachsenen wieder Lust auf Höhlenbau machen. Dass alle Utensilien natürlich auch von anderen Herstellern sein können, darauf weist IKEA übrigens sogar explizit hin.

Wohnzimmerhöhlen von Ikea, Foto: BBDO Russia, Ikea

Die Notwendigkeit, sich in unsicheren Zeiten einen sicheren Ort zu schaffen, bringt auch unser Monatslyriker im Dezember, Lucas Rijneveld, zum Ausdruck. Mit seinem Gedicht „Der Clown, in dem wir aufgewachsen sind“ reagiert er auf das Thema einer ungewissen Zukunft und einem manchmal fehlenden Fundament beim Erwachsenwerden. Was bringt das nächste Jahr wohl für uns, was die Zukunft ganz generell?

Erschreibt euch im Dezember einen sicheren Ort, an dem es euch besonders gut geht und an den ihr euch in Zeiten der Ungewissheit oder Sorge zurückziehen könnt. Vielleicht ist das ein Ort, an dem ihr tatsächlich schon einmal wart, oder den ihr aus Büchern oder Filmen kennt. Oder ihr kreiert einen Fantasieort, den es nur in euren Köpfen gibt. Alles ist möglich! Wie sieht euer sicherer Ort aus? Was gibt es dort alles? Welche Geräusche hört ihr? Welches Geheimwort muss gesagt werden, damit ihr jemanden hineinlasst? Oder entscheidet ihr einfach spontan und folgt eurer Intuition? Wir freuen uns auf eure Gedichte zum Thema „wir wispern den Schreck zurück“ und wünschen euch eine wunderschöne Winter- und Weihnachtszeit!

Der Clown, in dem wir aufgewachsen sind

Lucas Rijneveld

Wir sagenReue sei eine Schicht Margarine auf unserem Butterbrot
von jetzt an bleibt alles an uns haften, wir wispern den Schreck
zurück in sein Körbchen, brav sind die Dinge, die ohne uns keine
Identität mehr haben. Zum Beispiel der Stuhl, der ohne Gast ein
Stück Holz ist, die Lehne wie Vaters schweigsamer Rücken, dieser
Rücken ist, ohne dass Vater es weiß und das Umdrehen vergisst
bloß eine Mauer, der Hund ein bisschen Fell, im Verfall verbirgt sich die
Autarkie. Wir haben Angst, weil der Clown, in dem wir aufgewachsen sind
so langsam bei den Achseln zwickt, die Fröhlichkeit herausgelacht, jetzt
wo fieberhaft am Puppenhaus herumgebastelt wird. Wasnicht
mehr zu kitten istparken wir in einem Schuhkarton, bis wir den
Schuhkarton wieder für Schuhe brauchen und anderes nicht zu kittendes
Zeug: selbst Scherben verlieren mit der Zeit ihre Zerbrechlichkeit.
Wir haben schon seit Jahren kein Publikum mehr, sind aber immer
noch blass, Bretter in unsere Schädel gezimmert und Vater – bei dem
der Applaus fest eingebaut ist wie eine scheppernde Katzenklappe – fragt, wer
mit den Cornflakes gekleckert hat. Er sagt, die meisten Mäuse, die in die
Falle gehen, würden sich Genick oder Rücken brechen und wenn wir träumen
hören wir die kleinen Scharniere quietschen,dasZuschnappen des Bügels,wer
hier hineintappt, hat kein Haus mehr aufzugeben. Am Abend schneiden wir
alten Käse in Würfel, so groß wie unser Selbstbild, legen sie mitder
Pinzette auf das Holzbrett, die Bühne des Todes, und fragen uns, die
Bettdecke bis ans Kinn hochgezogen: wie soll man einen
Engel darstellen, wenn es dauernd bewölkt ist?

aus: Marieke Lucas Rijneveld, Kalbskummer. Phantomstute. Gedichte. Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner. © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022. Originalausgabe: Fantoommerrie © 2019 by Marieke Lucas Rijneveld.

Weiterführende Informationen

Lucas Rijneveld, Foto: Suhrkamp Verlag

Lucas Rijneveld 
wurde 1991 in Nordbrabant geboren und gilt als wichtige junge literarische Stimme aus den Niederlanden. Im Jahr 2015 veröffentlichte er den preisgekrönten Lyrikband Kalbskummer, 2019 folgte Phantomstute. Für seinen Debütroman Was man sät erhielt Rijneveld 2020 den International Booker Prize, sein zweiter Roman Mein kleines Prachttier stand monatelang auf der Bestsellerliste. Rijneveld lebt in Utrecht.

Schreibe, um zu träumen.