Unsere Gewinner*innen im April 2023

Wettbewerb im April 2023

„Wir staunen nicht. Alles geschieht 
unter dem Deckmantel der Entwicklung von selbst
bis wir das Wort Identität verstehen“

Anastasia Averkova, Anna Sophie Born, Alexandra Lipphardt, Charlotte Obenaus, Fanny Walger und Lia Josephine Wiegand haben die Jury in diesem Monat besonders bewegt mit ihren Texten rund um das Thema Nachmachen. Was macht es mit uns, unserer Identität und unserem Selbstbewusstsein, wenn wir jemanden nachmachen? Für diese Fragen und mehr, mit denen ihr euch im April lyrisch auseinandersetzen solltet, haben diese sechs Gewinnerinnen ganz eigene Antworten in Gedichtform gefunden, die ihr im Folgenden lesen könnt.

meinen vater ruft sein vater an, mein vater wirft mit dem mülleimer nach meiner mutter und mein bruder betritt den raum

Anastasia Averkova
2003

i

was gefällt ihr nicht, was für eine сволочь, was gefällt ihr schon wieder nicht,
sie тварь, sagt sein vater meinem vater
охуела, sagt er
ich schließe meine zimmertür

ii

kannst du bitte den müll wegräumen, sagt meine mutter
nein, ich werde dir hier alles kaputthauen, sagt mein vater
ich bin nicht deine bedienstete, sagt meine mutter
räum bitte den müll weg
was gefällt dir nicht, was für eine сволочь, was gefällt dir schon wieder nicht,
du тварь, ich bin nicht deine bedienstete, sagt mein vater
entschuldigung, sage ich
für seine beleidigungen
entschuldigung, sage ich
es ist zu plump, um fiktion zu sein, ich weiß
es ist die wahrheit
ich habe es dokumentiert
entschuldigung, sage ich
ich habe das gedicht veröffentlicht

iii

mehr ist dazu nicht zu sagen

Mimikry

Anna Sophie Born
2004

Wir werden von allein geboren
doch auf die Welt kommen wir
in den allermeisten Fällen nicht selbst. Noch schläft der Säugling.
Tag und Nacht. Er schreit. Er trinkt. Er atmet, weil es ihm sein Körper
so vorgibt. Das erste Lächeln
bekommt Oma nicht aus Liebe oder Sympathie. 
Das Kind ahmt die Bewegung 
der Gesichtsmuskeln nach. Später lernt es sprechen, 
indem es alles Gehörte mehrfach wiederholt. Lebensfähigkeit durch Sprache.
Erste Versuche zaghafter Artikulation. 
Phase eins: Schutzmimikry.

Wir staunen nicht. Alles geschieht 
unter dem Deckmantel der Entwicklung von selbst
bis wir das Wort Identität verstehen:
Die anderen mögen N.s leuchtendes Gesicht.
Sie lachen, wenn J. mit einem Löffel isst. 
Sie mögen E.s Lässigkeit.

Wir versuchen, zu lächeln wie N
den Löffel zu halten wie J 
und auch unser Arm liegt locker über Lehnen. 
Phase zwei: Lockmimikry.

Irgendwo lernen wir, dass selbst Feinde 
Schwebfliegen nicht von Wespen 
unterscheiden können.
Unangefochtene Meister 
einer perfekten Imitation.
Niemals werden wir Schwebfliegen sein. 
Phase drei: Rückgabe 
aller geliehenen Stimmen.

und latein muss ich auch noch lernen

Alexandra Lipphardt
2002

zünde kerzen mit zimtgeruch an
zentimeter entfernt vom bücherstapel
hälfte ungelesen, hälfte totannotiert
die schulbücher links könnten deko sein
gestriger post kam sehr gut an

kleide mich in blusen und mäntel
blütenreinweiß und marmorschachschwarz
kastanientöne finde ich im kleiderschrank
irgendwo zwischen blazern und dr. martens
wünsche, meine schule wär nicht neubau

kenne schon alle filterfunktionen der neusten app
und vergesse das heranzoomen vor dem klick nicht
hoch lebe die detailliebe und die authentizität
meine lieblingsfarbe ist ja pink
aber das lässt sich nur mühselig wegfiltern

bestelle mir um halb vier ein schachbrett
und dostojewski gleich dazu
haben nicht genug platz für ein klavier
und ich muss ja auch noch freunde finden
damit jemand aufnimmt, wie wir spontan durch flure rennen –
                        – gesichtlose schatten schwarz gekleidet.

Legion

Charlotte Obenaus
2005

Wenn ich sage, ich bin selbstlos,
meine ich nicht Höflichkeit und Türaufhalten;
wenn ich sage, ich bin selbstlos,
meine ich, dass in mir hundert Andere leben.

Ich habe die Sprache meiner Mutter gestohlen
und das Schweigen meines Vaters;
beide sitzen in meinem Mund
wie Zähne ohne Wurzeln.
Ich kopiere die Fingerabdrücke
von jeder Hand, die ich halte;
auch die Lebenslinien und die Ringe
ziehe ich über wie eine zweite Haut.

Ich stand vor einem Hopper-Gemälde
und habe das Morgenlicht eingeatmet;
was mich am Leben hält,
ist künstlerische Lungenventilation.
Ich übernehme meine Art zu lieben
aus Ingeborg Bachmanns Briefen;
es geht nicht um Max oder Magnus,
sondern um das Gedicht allein.

Ich eifere den Straßenkatzen nach
die sich auf Motorhauben wärmen;
um die Kälte fernzuhalten,
riskiere ich den Feuertod.
Ich erlerne den Stolz von allen Bergen,
deren Gipfelkreuz ich berühre;
tiefgrün und unverrückbar
schlägt das Herz in meinen Füßen.

Wenn man mich nach meinem Namen fragt,
müsste ich antworten:
„Legion, denn wir sind viele“
und selbst das habe ich aus der Bibel.

 

baby, lass uns bürgerlich werden

Fanny Walger
2004

baby, lass uns
bürgerlich werden, vorortlich:
mach von der fußmatte gebrauch,
riechst du frisch gemähten rasen,
ihn werden wir uns zuerst
in die haare weben, und dann

den wein mit einer anderen
sorte löffel löffeln als den tee
die hyazinthen auf der fensterbank
mit ariel und edding beschreiben
und dann in schreibschrift an den
zitrusgelben teil der wand: I fell for the
promise of a life with a purpose,
but I know that that’s impossible now

lass uns die gardinen und tischdecken
mit bügelfalten versehen, von nun an
dinge wie „von nun an“ sagen,
lass uns im teppichboden gegen den
strich gehen, bis man dein portrait erkennt
und im glastisch einen see, so bürgerlich
werden wir sein; wie glücklich das wird

„i only write in lowercase because my crush hates capitalism“

Lia Josephine Wiegand
2004

selbst die möwen haben nichts mehr zu sagen
als die frage nach
deinen politischen prioritäten 
dich aus dem konzept bringt
dein bumble-date unterbricht dich 
als du freund*innen genderst und 
zwei wochen später nennt er dich
„kleine kommunistin“
aber du willst nicht darüber diskutieren
denn abendessen sind anstrengend geworden
seit du nicht mehr lernst
wie du am besten deine eigene meinung runterschluckst 
wenn politische diskussionen 
den beilagensalat ergänzen

„weißt du, was ein ermittlungsausschuss ist?“
politik ist ein roter faden 
seit du denken kannst
und doch kannst du nur
neidisch sein wenn
„michael jackson liest politische theorie“
der titel von dem gedicht ist
was vor deinem vorgelesen wird 

„ich glaub, du kennst dich mit theorie besser aus als ich“ 
dein spiegelbild ist wie eine 
ermahnung nachdem du anstatt
deine position zu verteidigen wieder nur 
das was richtig ist gesagt hast 
und du fragst dich
was deine position ist 
nur wie sollst du das wissen wenn du
die letzten drei jahre immer nur genickt hast weil
sich selbst zu verraten einfacher ist 
als der vorwurf
familie nicht zu respektieren

„du bist naiv, vielleicht hast du das ja im internet gelesen, aber wir haben mehr lebenserfahrung“ 
du bist jetzt achtzehn 
und marx liest du zum dritten mal
für das gefühl eine meinung zu haben
manchmal
zwischen pesto und pasta und abendbrot fragst du dich zwar noch
was davon dir gehört und was
in eine kiste zwischen den steinen und postkarten und souvenirs
die andere dir gegeben haben
doch jetzt machen dir demos keine angst mehr 
zuhause bist du zwar still aber dafür
draußen umso lauter 

vielleicht ein bisschen politisch paradox
dafür kannst du jetzt aber 
mehr als nur müde reagieren und 
verstehst auch warum oma und opa
ihre meinung genauso haben dürfen wie du
michael jackson liest politische theorie
du jetzt auch

Schreibe, um zu träumen.