Jedes blaue Objekt eine Art brennender Dornbusch

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2023-06-30 24:00:00]]

Wettbewerb im Juni 2023

Wonach seid ihr verrückt? Gibt es etwas, das euch so begeistert, dass ihr euch den ganzen Tag damit beschäftigen könntet? Wovon ihr am liebsten der ganzen Welt berichten würdet? Gewöhnlich oder ausgefallen? Wir möchten diesen Monat gerne eure liebsten Leidenschaften kennenlernen – verpackt sie uns in ein Gedicht!

„Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ heißt eine aktuelle Ausstellung im  Deutschen Historischen Museum in Berlin. Sie zeigt, dass Schlüsselmomente der deutschen Geschichte wie der Fall der Berliner Mauer oder die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler auch hätten ganz anders verlaufen können. Wirklichkeit und Möglichkeit werden direkt gegenübergestellt und öffnen so ein wechselseitiges Spannungsfeld: Musste es so kommen? Was hätte auch passieren können? Wurde etwas getan oder gelassen, damit es so kam, wie es kam?

Loch in der Mauer, Foto: 7000/iStock

Den Raum für eine mögliche Wirklichkeit öffnet auch das Gedicht, das wir euch diesen Monat vorstellen möchten. Es beginnt mit der Annahme, sich in eine Farbe verliebt zu haben. Besonders an dem Ausschnitt aus Maggie Nelsons Band „Bluets“ ist auch, dass er erstmal gar nicht aussieht wie ein Gedicht. „Angenommen, ich würde beginnen, indem ich sagte, ich hätte mich in eine Farbe verliebt.“ – so beginnt der erste von insgesamt 240 durchnummerierten Absätzen, von denen wir euch die ersten drei zeigen. In ihnen verarbeitet Maggie Nelson ihre Leidenschaft für die Farbe Blau, in Mini-Szenen, die mal an Essays erinnern, mal an lyrische Prosa. Was macht diese Ausschnitte für euch zu einem Gedicht? Sind sie für euch ein Gedicht?

Probiert es selbst einmal aus: Schreibt uns diesen Monat eine poetische Mini-Geschichte! Überlegt euch, was eine Erzählung poetisch machen kann. Seid dabei fantasievoll, nehmt an, denkt euch aus, wie die Wirklichkeit „auch sein könnte“. Wenn ihr mögt, könnt ihr auch gern Nelsons erste Zeile „Angenommen, ich würde beginnen, indem ich sagte..“ übernehmen und eure eigene mögliche Wirklichkeit aufstellen und weiterspinnen. Wir freuen uns auf eure Einsendungen zum Thema „Jedes blaue Objekt eine Art brennender Dornbusch“!

Maggie Nelson

1. Angenommen, ich würde beginnen, indem ich
sagte, ich hätte mich in eine Farbe verliebt.
Angenommen, ich würde es sagen, als wäre es
eine Beichte; angenommen, ich würde meine
Serviette zerfetzen, während wir uns unterhielten.
Es fing langsam an. Als Wertschätzung, als
Wahlverwandtschaft. Dann, eines Tages, wurde es
ernster.
Dann (während ich in eine leere Teetasse
schaue, deren Boden befleckt ist mit einer dünnen,
braunen Ausscheidung, spiralförmig gerollt wie
ein Seepferdchen) wurde es irgendwie persönlich.

2. Und so verliebte ich mich in eine Farbe – in
diesem Fall in die Farbe Blau –, wie durch eine
Verzauberung, eine Verzauberung, die ich
verteidigte und gegen die ich mich wehrte – immer
im Wechsel.

3. Gut, was ist schon dabei? Ein Wahn aus freien
Stücken, könnte man sagen. Jedes blaue Objekt
eine Art brennender Dornbusch, ein heimlicher
Code, nur für eine einzige Agentin bestimmt, ein X
auf einer Karte, die viel zu diffus ist, um sie jemals
ganz zu entfalten, die jedoch das gesamte
begreifbare Universum umfasst. Wie können all
die Fetzen blauer Müllbeutel, die in
Brombeersträuchern hängen, oder die strahlend
blauen Planen, die über den Shantys und den
Fischbuden der Welt flattern – wie können sie im
Wesentlichen die Fingerabdrücke Gottes
darstellen? Ich will versuchen, das zu erklären.

Maggie Nelson, Bluets,
Übersetzt von Jan Wilm
© 2018 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

Weiterführende Informationen

Maggie Nelson, Foto: Harry Dodge

Maggie Nelson
Geboren 1973, ist Dichterin, Kritikerin und Essayistin. Sie lehrt an der University of Southern California und lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Für ihr hoch gelobtes Buch “Die Argonauten”, 2017 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 2020 “Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses”.

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