Unsere Gewinner*innen im Juli 2023

Wettbewerb im Juli 2023

Im Juli habt ihr uns „viele grüße / aus dem niemandsland“ gesandt, ihr habt aus dem Urlaub an „die Heimat, die stillen Vororte, die Schrebergärten und […]einen Stoffhasen“ geschrieben und „Wörterwolken“ „in die warmen Wellenwogen“ wehen lassen. Eure Aufgabe war es, uns eine Gedichtpostkarte aus dem Sommer(urlaub) zu schicken. Wir haben euch gefragt: Wie kann eine lyrische Postkarte aussehen? Was sind typische Sätze, die man sofort mit Postkarten verbindet und wie kann man diese kreativ verändern? Was erzählt eure Postkarte von euren Sommer- und/oder Urlaubserlebnissen? Inspiriert zu dem Thema hat uns die Lyrikerin Simone Lappert mit ihrem Gedicht „marmeladenbrot“. Wir gratulieren Anna Sophie Born, Oliver Boynton, Alicia Eckhardt, David Lehmann, Charlotte Obenaus und Marie Helene Zwicker! Herzlichen Glückwunsch!
Eure Texte haben die Jury diesen Monat überzeugt!

nachricht aus zwischenweltlichen sphären

Anna Sophie Born

2004

von meinem fenster aus kann ich die inseln sehen, 
seit ich gestrandet bin, nehme ich himmel als wasser wahr
laufe manchmal abends die strände ab,
sammle unfertigkeiten, leere gehäuse, (auf)gebrochenes und makulatur
seit ich gelandet bin, will ich
die teerakete steigen lassen,
mich an fasern hängen, die sich zu luft und staub verweben
finde nichts seltsames am schweben, es ist wie reisen ohne ziel
manchmal fühle ich die nahen stürme 
und sehe mir gedanken wie familienfotos an, viele grüße
aus dem niemandsland 

Dekadenz – Sommerurlaub in Italien

Oliver Boynton

2003

Von – mir

An – die Heimat, die stillen Vororte, die Schrebergärten und meinen Stoffhasen

die Sonne hier scheint anders  heller, fast schon aggressiv. So als wolle sie sich rächen, für Feinstaub und Krieg. An den Tagen sind wir Touristen, schießen Bilder und sprechen gebrochenes Englisch. Und in der Nacht sind wir müde.
Opa vergisst immer mehr, erinnert sich viel zu selten und Oma liebt es zu tanzen. Langsamer, aber sie tanzt. So als wolle sie die Zeit herausfordern. Tanzen gegen all die Jahre, das Alter und seine Demenz. Noch ein letztes Mal die Jugend schmecken. In sie beißen, als wäre sie eine reife Orange.
Die Sonne hier scheint anders  Immer wenn Geschirr klirrt und Mama wütend ist. Wenn dieses Haus hier brennt und die Welt schläft „hier heißt es Siesta“. Die Sonne blendet mich, wenn Papa mich in den Arm nimmt, meine warme Stirn küsst, sagt, dass alles gut wird. Ich glaube ihm nicht, aber es fühlt sich gut an, das alles.
Am Abend flüstert das Meer, in einer Sprache die nur die Nixen sprechen. Aber manchmal, in meinem Kinderwahn, mache ich so, als würde ich es verstehen, diesen verwaschenen Klang der Wellen. Sie flüstern mir ins Ohr, immer dasselbe: – „„Essere bambini è difficile“

Mitgeflogen

Alicia Eckhardt

2004

Wörterwolken wehen leise
in die warmen Wellenwogen,
begleiten mich auf meiner Reise,
sind mal neckisch, sind mal weise,
doch du? Nicht mit mir mitgeflogen.

Drum für dich diesen Schmökerbrief
für Südsommerabend auch zu Haus‘,
atme ein, ganz schwer, ganz tief,
zieh‘ Hast- und Ehrgeizstiefel aus
und komm‘ aus Alltagsgrollgruft ‘raus.

Stell dir vor, wie deine Zehen
sich in Samtsand wühlen wollen,
Pommestüten knisternd wehen,
schlickschmutzschmatzend Möwen tollen
und Gischtküsse ans Ufer rollen.

Gelborangene Currydüfte
und englischdeutscher Marktgesang
wabern tanzend durch die Lüfte:
mystischbunter Urlaubsklang.
Erinnerungsnetz trägt frischen Fang.

Softeisschmelze in den Haaren
verklebt mit Salz und Sonnenschein,
mit Wunderwind und rotem Wein,
mit Mut, sich selbst neu zu erfahren,
mit Kraft und Glück und Liebelei’n.

Lass Sorgenstress auf Schiffen flieh’n!,
von Sommersehnsucht dich verführ’n!,
Gedanken in blaurosa zieh’n!,
dann kannst du Muschelknirschen hör’n.
…und kannst du meine Nähe spür’n?

Wörterwolken wehen leise
in die warmen Wellenwogen,
locken dich zur Tagtraumreise,
sind mal neckisch, sind mal weise,
und du? Im Traume mitgeflogen.

Vermissen Tote ihre Bücher?

David Lehmann

2006

Ich stehe so oft vor deinem alten Bücherregal 
und blättere durch die staubbesetzten Wälzer 
weil sich die Lesezeichen in ihnen
anfühlen wie Postkarten aus dem Jenseits 
da ich weiß dass sie niemand mehr berührt hat 
seitdem du sie zwischen die Seiten gelegt 
und deine Geschichten pausiert hast 
nur um sie nie zu beenden
und darauf zu warten 
dass ich dir jetzt
vorlese

In die Fremde

Charlotte Obenaus

2005

Du, die da im goldenen Land
der Säulen und Zypressen schläft:

Sag mir, grüßen dich die Vögel
schon mit süßen Königstiteln?

Lieben dich die Meereswellen
so wie ihre Venustochter?

Fließt der dunkle Marmorhimmel
Nacht für Nacht in deine Augen?

Umhüllen dich die Südwinde
wie eine Braut vor dem Altar?

(Schreib mir, falls du die Sandalen
je wieder zur Heimreise schnürst.)

–Ich, die da auf kalter Erde
unter dem fliehenden Mond wacht

Im Mohnblumenfeld

Marie Helene Zwicker

2003

‚Marie.
Wenn ich gehe, 
dann gehe ich 
nicht bloß.
Ich breche auf 
wie die Knospen des Klatschmohns im Juni;
dann läute ich
den Frühsommer meines Lebens ein.‘

Jetzt liege ich 
Zwischen Quinter Kakteen und gräsernen Ären
Auf braunem Staub.
Erste rote Tupfer in der Farbpalette Grün.
Da sind Knospen in greifbarer Nähe
ich reiße sie ab
schäle junge, mattrosa Blütenblätter 
aus ihrer haarigen Hülle.
Zerknitterte Zukunft, 
errötend ersehnt,
doch noch nicht bereit,
Tageslicht zu sehn.

Jetzt halte ich die Postkarte
wieder in der Hand.
Eines Dezembernachmittags versandt 
erzählen mir die grau
verwischten Bleistiftbuchstaben
von meinem erträumten Junibeginn.

Jetzt liege ich
im Mohnblumenfeld
und fühle mich farbenblind.

Schreibe, um zu träumen.