Unsere Gewinner*innen im August 2023

Wettbewerb im August 2023

„was ist, wenn nicht jeder topf einen deckel besitzt?“

„Warum keine Sterne in festen Konstellationen?“
„weißt du eigentlich, wer ich bin?“

„Spielt das Orchester aus der Asche denn nicht schief genug?

„was würde mir fehlen, ohne vater?“

„Hast Du Knöpfe gedrückt für Raketeneinschläge?“

Diese und mehr Fragen werfen die Gedichte unserer sechs Monatsgewinner*innen zu unserem August-Thema „Warum letzte Nacht“ auf. Ausgehend von dem Gedicht „die kunst darin straßenkatzen nicht aufzuwecken.“ von Nail Doğan wart ihr aufgerufen, uns eure Fragen in Gedichtform zu schicken. Die Jury überzeugen konnten Lara Adam, Janna Frank, Maria Pacurariu, Felix Polianski, Jonah Rausch und Lotta Schütte! Herzlichen Glückwunsch! Und allen viel Spaß beim Lesen ihrer Gewinner*innengedichte!

Letzte Nacht

Lara Adam

2003

Warum letzte Nacht
Warum du und nicht ich Warum weinend und nicht lachend
warum gestern und nicht morgen Und warum nachts und nicht tags

Warum
Paarung
Du in mir, ich in dir
Dreh dich um
Darum?

Warum
Nahrung
Ich in dir, du in mir
Bring mich um
Darum?

Die letzte Nacht Der erste Tag

Die Nacht, die über dir wacht
Die dich auslacht
Die dich zu dir selbst macht

Der Tag, der über dir ragt
Der dich befragt
Der an dir
nagt

Tag und Nacht und Tag und Nacht
Drehen sich in wilden Kreisen
(So wie wir)
Warum
Weil sie das Schwindelgefühl lieben
Weil Schwindeleien immer siegen
Weil die Nacht nicht schwindelfrei ist und der Tag verschwiegen
(So wie wir)
Darum?

Neben dir Mitternacht, bebender Mittag

Warum zwei verlorene Menschen
Warum keine Sterne in festen Konstellationen
So wie wir in meinem Kopf
Vor gestern Nacht
Jetzt bist du eine Sternschnuppe
Fliegst weg von mir, explodierst in dir
Ich darf mir was wünschen
Darum?

Zwei Ufer
Eine Brücke
Nenne dein Ufer die Sonne und du meins den Mond
Sie stürzt ein
Darum?

Ich versinke in gestern Nacht
Nacht und Nacht und Nacht
Sie dreht sich in mir in wilden Kreisen
(So wie du)

Liebst du dich
Verdien ich mich
Warum behandelst du Träume wie hässliches Porzellan Und mich, wie jemanden, der
nicht zerbricht
Warum schreibst du mir ein Gedicht, dessen Farben du verwischst, dessen Flamme du
erlischst
Warum verstehst du mich wie jemanden, der deine Sprache nicht spricht
Dessen Gesicht kein Gewicht in deiner Welt der „Trau dich“s ist und grausig bedauer ich
die Frage, die unbeantwortet bleibt: Warum macht dich das nicht traurig?

Warum letzte Nacht?
Weil es keine Antworten gibt. Und weil diese Antwort so paradox ist, wie wir.
Darum.

wirst du meinen himmel küssen?

Janna Frank

2004

was meinst du, wenn du sagst, frauen können keine männer sein?
und wieso meinst du zu mir, dass die sterne für uns zwei heller scheinen?
willst du etwa, dass ich dir zu füßen liege?
da auf dem fußboden?
da, wo die mäuse kriechen?

wer sagt denn, dass klein kleiner ist als groß?
was wäre denn, wenn dein groß kleiner ist, als mein klein und mein klein weit hinausragt über dein?
bis in den sternenhimmel hinein?
den ich heut nacht ganz allein
tapezieren werde?
willst du den dann immer noch mit mir sehen?
diesen schönen? sternenhimmel 
wunderbaren? sternenhimmel 
grenzenlosen? sternenhimmel 

kannst du starre steine zum flüstern bringen?
kannst du die liebe bezwingen?
und glauben, dass die sonne genau hier zwischen uns steht?
auf dass wir schlagschattenfrei sind?
auf dass wir schweben?

wärst du nicht auch wütend, wenn deine rocklänge in zentimetern mein kilometerlanges argument wäre?
wenn dein verlust im palast meiner meinung still begraben läge?
wann fängt endlich die zukunft an?
man fragt sich, ist sie gläsern gefliest
und misst sie länger als die vergangenheit?
was würdest du fühlen, wenn man dir die wut entführt?
und dieses beben für dich ab jetzt zickig heißt?
aber wenn du gar nicht zickig bist, bist du dann nicht technisch leer?
wie würdest du klagen, wenn ich dir sage, ich kann ab heute alles sein?
frauen sein?
männer sein?
ich sein?
willst du den dann immer noch mit mir sehen?

 

mit dir sehen?

mit mir sehen?

mit ihr sehen?

nein, mit MIR sehen!
weißt du eigentlich, wer ich bin?
dass ich es hasse, wenn du sie mir erklärst, deine astronomische katastrophe?
dass mir dein weltall die luft entzieht?

kannst du es fassen, dass sich über mir kein deckel mehr schließt?
dass ich sprengstoff für dein weltall bin?
was ist, wenn nicht jeder topf einen deckel besitzt?
wenn im weiten himmelreich
über manchen toten töpfen
unter bittersüß-schweren regenergüssen
tausende blüten die wolken küssen?
ja, was dann?

schießende sterne

Maria Pacurariu

2002

Warum, hast du gefragt und ich habe meine achseln abgeschüttelt und bin aus dem fenster

                                                                                                                                                                                          geflogen

 

                              (geflohen) vor den 

antworten, die ich mir selbst nicht geben konnte

wir beide haben uns den rest gegeben,

der hatte die farbe, die der liebe am nächsten kommt

weil wir beide waren superstars, in einer welt voll von hobbygärtnern und modeleisenbahnsammlern

vielleicht wäre eine gute antwort gewesen: weil ich immer noch zu den falschen göttern betete, die an unsere zimmerwände gepostert waren und weil ich wie du früher auch immer noch glaubte eigentlich alles nur dafür zu tun, dass einmal jemand unsere worte in die schultoilettenwand einer kleinstadtschule ritzen würde/ dort, wo wir früher arme und wände geritzt hatten und dort, wo wir immer wegwollten/ schon bevor wir lernten die gefühle genauer zu benennen und anfingen von bedürfnissen zu reden

wir waren superstars in einer welt, die nur aus hobbygärtnern bestand

wenn wir in betten schliefen, dann immer nur miteinander – sonst schlaflos

 

wir sind vor unserer teenage angst bis auf das letzte parkhausdach gelaufen und an den weniger eindeutigen tagen denke ich manchmal, dass wir auch füreinander gesprungen wären

 

ich wollte dir ein haus bauen ganz aus recyceltem plastik und damit wären wir auf den see hinaus und wären dort so lange geblieben bis wir zu alt gewesen wären, um noch fehler machen zu können und wir hätten nur dagesessen auf unserem hausboot – die letzten glücklichen menschen der welt

und wie? so:

obwohl wir superstars waren in einer welt voller hobbygärtner und modeleisenbahnsammler, reichte mir das nie, nie waren etwas oder ich genug und ich stolperte in städte und verspiegelte mich in discokugeln und ließ mich vom licht blenden und stolperte über rote teppiche und verstand nie wie man bleiben wollte, dort wo die welt noch ein ende hatte

weil wir waren superstars, aber meistens lagen wir doch nur da im gras und ließen die panikherzen aufeinander ausatmen bis wir sehen konnten und wir sahen – über uns die glühwürmchen

wie viele, hast du gefragt und du hast es gehasst wenn ich mich verzählt habe und über uns waren sternschnuppen, aber damals konnte ich auch die nicht zählen und war fast wunschlos, weil mit dir hast du gesagt – sind mir die sterne schnuppe

do you believe shooting stars are just angels throwing away their cigarettes before God could catch them smoking?

wir waren superstars/ immer in der angst zu verglühen.

aber jetzt bin ich ein milchmädchen und das kokain ist gestreut wie die milchstraße

wir waren superstars/ immer in der angst zu verglühen.

unsere geliebten: du wirst sie erkennen an ihren brandmalen/ an ihren händen, durch die nägel geschlagen sind/ weil sie mussten begreifen bevor sie glauben konnten

   seelig sind die, die glauben ohne zu sehen

 wir waren typ chronischer overachiever und alleshasser/ team großkotz und größenwahn/ wir konnten das glitzern sehen zwischen den asphaltsteinen/ auch bei nacht

und irgendwo auf einer insel auf einem see, da wo all die anderen superstars heimlich weiterleben, auf einem floating hausboot aus recycletem plastik, da gibt es auch uns noch. ehrenmitglieder im club 27. die letzten echten superstars.

weil wir waren superstars, da wo die welt noch ein ende hat und du warst meine supernova, mein schwarzes loch und ich das universum. dann bist du erwachsen geworden (wann?)

und wie alle sterne sieht man auch unser licht noch eine weile nachdem es erloschen ist

Ein Apostroph hängt neben Otto Dix‘ Metropolis

Felix Polianski

2007

Festgenagelt hängt das Triptychon der Mehrlust,
hundert Jahre grellgelb anekelnde Gedanken.
Kubus hoher Decken stemmt den ewigen August
flechtet ein Dickicht entflammter, bald verbrannter Ranken.

In einer Zeit des Nichtsmehrzuversaufen,
(hörte sie jemals auf?)
Warum schaut eine auf den andren runter.
Habt ihr nicht beide Leib und Seele lang verkauft.

Wahrheits- und beinverrenkender Aristokrat im Anzug,
warum werd ich den leeren Blick nicht los?
Sag: “It don’t mean a thing if it ain’t got that swing.”
Ich weiß, er kennt das Kaki-Elend eines Zufalls‘ vor der Tür
Die andre Seite seiner tonnenschwern Medaille.
Warum hör ich noch immer selbes vonobenherab Dafür?

Spielt das Orchester aus der Asche denn nicht schief genug?
Dass „aus der Asche“ uns nicht mehr gefällt?
Die Zeit danach war eine Zeit davor,
Warum schrägt „nie wieder“ in diese Welt,
bis einer drüber stolpert?

Blick auf Central Park und Broadway,
doch du warst niemals in New York.
Ein Bild sagt mehr als 176 Wörter.
Warum brauchst du Metropolis zu kennen,
um Metropolis‘ zu kennen?

was würde mir fehlen, ohne vater?

Jonah Rausch,

2002

Brutal
wie es in der Sonne glänzt
wie seine ausgedehnten Ränder
lila schimmern wie es
den Himmel aufreißt
die Wolken an ihm hängen bleiben
in verletzter Landschaft steht
der Klotz

dieses Gebäude so
unverarbeitet und roh,
abweisend und kalt
fast wie ein Vater

Da glänzt roter Sand im Hinterhof
Da steht für eine Fahne nur ein Mast
Da verwechselte er Schläge mit Zärtlichkeit
und brüllte mit
obwohl er selbst nie deutsch war
aber immer Faschist  

Ich frage mich, was wäre
ein Tag mit Vater
was ist mir da entgangen
was mich traurig gemacht hat

Ich fand zu dieser Zeit
nur im Kollabieren ein Gefühl.
deshalb zog ich
zog im Dunkeln durch das Heckert
meine Kauleiste brach jede Nacht
Morgens die Vater Morgana
wohin bist du?

Nie wurde ich gefragt
wo hast du letzte Nacht geschlafen
aber immer ein Alibi-Besuch an jeder neuen Schule
und als ich ging
ein paar Euro mehr auf dem Konto

Du hast verpasst mich zu fragen 
wer ich bin
ich kenne nur deine flache Hand
auf meiner Haut

was würde mir fehlen
ohne Vater

Ein Ballspiel alleine
klirrende Tassen
eine Umarmung
die nie ernstgemeint war
alleine frühstücken
den Hass auf jeden Jungen
den ich mit nach Hause bringe

was würde mir fehlen
ohne Vater

stehe vor dem Heckert
ich kann nicht erkennen, wie es darin aussieht
Kein Fensterblick hinein,
nur einer, um hinauszuschauen
Das Gebäude fühlt sich fremd an
der rote Sand zu heiß um ihn
durch die Finger zu sieben
eine Stadt, die jetzt vaterlos ist
kann ich nicht begreifen

ein Klotz
Baustoff, brutal
in der Sonne glänzend von
Fliegen umschwirrt ein Sozialbau
in dem niemand wohnen will
in vergessener Landschaft
Baustoff, Ruine

jetzt wo er weg ist
vermisse ich

du fehlst mir
glaube ich

Helm aus Stahl

Lotta Schütte

2005

Grau-grün-gemasert, glatt 
mit einem dünnen Riemen 
für Dein Kinn
Einst, zwei Finger breit über Deiner Stirn 
Deine Augen schirmend
– ein Helm aus Stahl: 

4 Kilogramm Metall 
liegt jetzt kalt in meiner Hand.
Wiegt viel zu schwer, es auf dem Kopf zu tragen
doch noch viel schwerer wiegen all die Fragen 
und dass Du sie nicht mehr hören kannst. 

Wie hast Du geheißen? 
Wo hast Du gewohnt? 
Was hat Dich ausgemacht? 
Wer hat Dich abends angelacht? 
Welche Kraft hat Dich getrieben? 
Und wer konnte Dich noch lieben? 

Denn wie Du auch geheißen hast, 
wärn wir uns so begegnet, 
dann hätte ich wohl Angst gehabt. 
Vielleicht hätt ich Dich verachtet
Vielleicht gar nicht als Mensch betrachtet
Nur als Soldat, der schießen kann
und wahrscheinlich schon geschossen hat. 

Doch jetzt – mit Deinem Helm aus Stahl
kalt 
in meiner Hand 
frag ich mich 
Warst Du vielleicht so alt wie ich?

Und hattest Du Angst?
Wenn Du im Schützengraben lagst 
und Dir nichts blieb als hoffen 
hoffentlich wird heute nicht getroffen.  

Lagst Du gestern Nacht vielleicht noch wach
und hast den Mond betrachtet?
Der so weit weg von schwarz verbranntem Gras 
und tief zerfahrenem Matsch 
und Krieg
wie schon immer friedlich auf die Erde schien? 
Hast Du in den Himmel hochgeschaut
und einem blassen Leuchten 
hinter Wolken
ein Kuss an Deine Freundin zugehaucht? 

 

Welchem Kind 
hast Du gesagt
Jeden Abend
sehen wir den gleichen Mond.
Kurz nach Sonnenuntergang 
Schau ich ihn an 
und wenn du mich vermisst, 
und dann den Mond am Himmel siehst 
Dann weißt du: ich denke jeden Tag ganz fest an dich. 

Welches Kind hat jeden Tag 
immer wieder nur nach Dir gefragt? 
Wer musste jeden Tag aufs Neue sagen 
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht, wo dein Papa ist. 
Aber er kommt bestimmt zurück.

Welcher Vater lag monatelang 
wo jeden Tag nur Neumond war 
zuhause Nächte wach
und hat dabei immer nur an Dich gedacht? 

Wer vermisst Dich gerade jetzt? 
Wem bleibt von Dir nur noch
Deine Mailboxstimme
und ein altes Foto 
als vergilbende
Erinnerung 
an ihren großen Sohn?

Ich frag mich wie viele Gefechte 
an wolkenverhangenen Tagen 
und mondlose Nächte
Ohne Trost. Ohne Liebe. Ohne Geborgenheit. 
Ohne Vergeben. Ohne Menschlichkeit.  
Hast Du ertragen?

Aber auch: 
Wie oft hast Du auf Menschen geschossen? 
Wie viele Stahlhelme hast Du getroffen? 
Hast Du jedes Mal Deine Augen vor dem Tod verschlossen? 
Hast Du manchmal mitgeweint 
um Deine Feinde? 
Die in einem andern Leben
Vielleicht auch einfach Menschen wären? 

Warum hast Du Dich nie widersetzt? 
Dafür so viele Menschen todverletzt.
Hast Du Knöpfe gedrückt für Raketeneinschläge 
Mitten in Städte
Mitten in Menschen, die einfach nur ihr Leben lebten?
Hast Du gehasst? 
Hat Dich der Kugelstaub 

dort blind gemacht? 
Wann wurden Deine Ohren taub?

All diese Fragen
Stell ich Dir still in meinem Kopf
Ohne dass ich weiß 
Wie Du heißt.
Wen  Du liebst.
Wer Du bist. 
Wer Dich gerade unfassbar doll vermisst. 

Ohne diese 4 Kilogramm Metall
in meiner Hand 
wüsste ich nichtmal 
dass Du einmal lebendig warst. 
Dass Du
gestritten, geliebt
gelitten, gelebt
geatmet und geträumt hast. 

Doch jetzt – mit Deinem Helm aus Stahl
kalt 
in meiner Hand 
Denke ich
noch ziemlich oft an Dich. 
Stell Dir still in meinen Kopf  
Fragen 
Die Du niemals hören wirst
und fahre dann
mit meiner Hand 
über das 
grau-grün-gemaserte Metall 
und das kleine Loch 
am Hinterkopf 
in Deinem Helm aus Stahl. 

Schreibe, um zu träumen.