die rakete eine dekade später

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2023-10-31 24:00:00]]

Wettbewerb im Oktober 2023

Jeder hat sie, jeder kennt welche. Manchmal sind sie nur winzig klein, manchmal so groß, dass sie Leben schützen oder gefährden können. Geheimnisse! Wofür sind Geheimnisse gut? Und wo sind sie vollkommen fehl am Platz?

„Ich nuckel immer noch an meinem Daumen, bin 12.”, „Ich habe Angst, dass mich keiner akzeptiert, wie ich in Wirklichkeit bin”, „Ich bin in den Ex meiner besten Freundin verliebt”. Das alles sind Geheimnisse von jungen Menschen. Mila Fitze und Evangeline Flubacher haben sie anonym für ein Abschlussprojekt ihrer Schule in Basel gesammelt. Mit den geteilten Geheimnissen möchten sie zeigen, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist. Auch sehr tiefgreifende und existenzielle Geheimnisse sind auf ihrer Website secretsbasel.ch nachzulesen. Vielleicht hilft es manch einem*einer Betroffenen zu lesen, dass auch andere dieselben Gedanken haben, wie er*sie selbst. Würdet ihr eure Geheimnisse anonym weitergeben? Oder teilt ihr sie lieber mit einem*einer Freund*in oder Vertrauensperson? Gibt es Dinge, die alle endlich mal ent-tabuisieren sollten?

Foto von Kristina Flour auf Unsplash

Neben den Geheimnissen im Privaten gibt es auch Geheimnisse, an denen das Wohlbefinden großer Menschengruppen hängen kann. Den Stempel „Geheim” tragen zig Regierungspapiere. Nur ein ganz kleiner Personenkreis darf von ihrem Inhalt wissen, um die äußere Sicherheit eines Landes nicht zu gefährden. Manchmal sind an solchen Geheimnissen jedoch nicht nur hochrangige Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und weitere Entscheider*innen beteiligt, sondern auch vermeintlich unbeteiligte, unbekannte Personen, die an der Umsetzung oder Geheimhaltung eines solchen Projekts und manchmal gar historischen Ereignisses beteiligt sind. Einer solchen Person widmet sich der Lyriker und Verleger Tillmann Severin in einem Gedicht, das wir euch diesen Monat vorstellen. Er schreibt einen poetischen Fragebrief „an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird”. Diese Art Rakete wurde von der Sowjetunion im Kalten Krieg als Attrappe gebaut und öffentlichkeitswirksam als Abschreckung in einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau präsentiert. Die ausführenden Arbeiter*innen, die zum Beispiel Metall genietet oder Stücke zugesägt haben, befanden sich ebenso wie die Ingenieure und hochrangigen Mitglieder des Militärs in der absurden Situation eines doppelten Geheimnisses: Dass sie am Bau einer Rakete arbeiteten – und dass es gar keine Rakete war.

Schreibt uns im Oktober Gedichte über Geheimnisse! Kleine und große, private und öffentliche, lustige und traurige, gehütete und endlich gestandene. Was passiert, wenn ein Geheimnis verraten wird? Und woraus sollte endlich kein Geheimnis mehr gemacht werden? Wir sind gespannt, welche Gedichte ihr uns rund um das Thema „Geheimnisse“ schickt! 

an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird

Tillmann Severin

hast du erzählt
dass du bonbons verpackst
auf der arbeit?
deinen freund*innen
oder großeltern
nd dabei geschmunzelt
dass sie wussten
trugst eines der
tausendundeinen staatsgeheimnisse
zusammen mit ingenieuren
putzkräften lastkraftwagenfahrern
offizieren und ministern

trugst kein blech am revers
schwärmtest zwinkernd von raschelndem
cellophan von stanniol von alu
während deine liebsten sich
den falschen teil dachten
du stolz sein konntest

musstest noch nicht einmal lügen
um zu lügen
es war schließlich kein geheimnis
dass du an einer rakete arbeitest
sondern dass du an keiner arbeitest
hast du in einer blauen nacht
zum großen bären aufgesehen, gesagt
du seist »raketeningenieur«
ohne anführungszeichen

hast geblinzelt
als du 1965 im fernsehen
die bilder deiner rakete sahst
auf dem roten platz

musstest du dich beherrschen
die fassade aufrecht erhalten?

warst du dabei
als dein staat die rakete
eine dekade später
verschrotten ließ

oder warst du froh
dass sie nie auffliegen würde
nach gefakter aufrüstung
die gefakte abrüstung

aus: Tillmann Severin, museum der aussterbenden mittelschicht, Verlagshaus Berlin, 2022

Weiterführende Informationen

Tillmann Severin, Foto: Natalia Reich

Tillmann Severin,
lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Komparatistik an der LMU München und in St. Petersburg sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Severin schreibt Lyrik und Prosa und übersetzt Lyrik aus dem Russischen. Er veröffentlichte in Zeitschriften, Anthologien und Künstlerbüchern. Zuletzt erschienen im Verlagshaus Berlin „museum der aussterbenden mittelschicht“ und, in Zusammenarbeit mit Lea Schneider, das E-Book „O0“. Er wurde zuletzt u. a. ausgezeichnet mit dem VG-Wort Neustart Kultur-Stipendium für die Arbeit an „museum der aussterbenden mittelschicht“ und mit dem Bode-Stipendium für Übersetzungen von Gedichten von Galina Rymbu.

Videos zum Monatsthema

Lesung Monatsgedicht und Schreibimpulse von und mit Tillmann Sevierin

Schreibe, um zu träumen.