die rakete eine dekade später

Die Jury hat entschieden!

Zu den Gewinner*innen

DAYS HOURS, MINUTES, und  SECS
[[deadline:2023-10-31 24:00:00]]

Wettbewerb im Oktober 2023

Habt ihr euch schonmal vorgestellt, ihr könntet jemanden einfach alles fragen? Vielleicht sogar jemanden, der*die gar nicht mehr lebt – eine historische Person wie Marie Curie oder Christopher Columbus, oder eure eigenen Ur-Ur-Großeltern? Vielleicht habt ihr auch Fragen an jemanden aus eurem Alltag, mit der*dem ihr euch noch nie unterhalten habt, an eure Busfahrerin vielleicht oder den Nachbarn, der seit 70 Jahren im Ort wohnt? Wählt im Oktober eine Person aus und schickt uns eure poetischen Briefe an sie!

Mit einer historischen Person setzt sich auch der Lyriker auseinander, den wir euch diesen Monat vorstellen: Tillmann Severin widmet sich in seinem Gedicht jedoch keiner berühmten Persönlichkeit, sondern einer vollkommen unbekannten Person, die an einem historischen Ereignis beteiligt war. Er schreibt einen lyrischen Fragebrief „an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird”. Diese Art Rakete wurde von der Sowjetunion im Kalten Krieg als Attrappe gebaut und öffentlichkeitswirksam als Abschreckung in einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau präsentiert. Die ausführenden Arbeiter*innen, die zum Beispiel Metall genietet oder Stücke zugesägt haben, befanden sich ebenso wie die Ingenieure und hochrangigen Mitglieder des Militärs in der absurden Situation einer doppelten Scheinheiligkeit: Sie waren am Bau einer Rakete beteiligt, die gar keine echte war, und mussten trotzdem so tun, als würden sie ihren Beruf geheimhalten müssen.

Jemand, der gleichzeitig extrem berühmt und vollkommen unbekannt war, war Sixto Rodriguez. Der kürzlich verstorbene US-amerikanische Singer-Songwriter war in den 1970ern ein gefeierter Superstar in Südafrika, wo seine Songs überall zum Protest gegen die Apartheid gesungen wurden. In den USA wusste jedoch niemand – Rodriguez selbst eingeschlossen – von seinem Ruhm. Erst als sich ein Fan auf die Suche machte, erfuhren die Welt und Rodriduez selbst von seiner Bekanntheit im politischen Umsturz. Der Dokumentarfilm über einen Superstar, den die Welt nicht kennt, erhielt 2013 einen Oscar. Den Trailer könnt ihr euch rechts ansehen.

Greift Tillmann Severins Herangehensweise auf und schreibt einen poetischen Brief an eine*n Unbekannte*n! Ihr könnt in eurem Brief eine historische Person befragen und über sie schreiben oder über sie hypothetisieren. Ihr könnt euch berühmten Personen widmen, Menschen aus eurer Familiengeschichte oder auch Personen, die an bedeutenden Ereignissen beteiligt waren. Wen würdet ihr befragen wollen, wenn ihr es könntet? Was würdet ihr erfahren wollen und welches Wissen könntet ihr erlangen? Und was könntet ihr dann damit anstellen?

an einen der erbauer der dreistufigen interkontinentalrakete 8к713, die auch гр1 genannt wird

Tillmann Severin

hast du erzählt
dass du bonbons verpackst
auf der arbeit?
deinen freund*innen
oder großeltern
nd dabei geschmunzelt
dass sie wussten
trugst eines der
tausendundeinen staatsgeheimnisse
zusammen mit ingenieuren
putzkräften lastkraftwagenfahrern
offizieren und ministern

trugst kein blech am revers
schwärmtest zwinkernd von raschelndem
cellophan von stanniol von alu
während deine liebsten sich
den falschen teil dachten
du stolz sein konntest

musstest noch nicht einmal lügen
um zu lügen
es war schließlich kein geheimnis
dass du an einer rakete arbeitest
sondern dass du an keiner arbeitest
hast du in einer blauen nacht
zum großen bären aufgesehen, gesagt
du seist »raketeningenieur«
ohne anführungszeichen

hast geblinzelt
als du 1965 im fernsehen
die bilder deiner rakete sahst
auf dem roten platz

musstest du dich beherrschen
die fassade aufrecht erhalten?

warst du dabei
als dein staat die rakete
eine dekade später
verschrotten ließ

oder warst du froh
dass sie nie auffliegen würde
nach gefakter aufrüstung
die gefakte abrüstung

aus: Tillmann Severin, museum der aussterbenden mittelschicht, Verlagshaus Berlin, 2022

Weiterführende Informationen

Tillmann Severin, Foto: Natalia Reich

Tillmann Severin,
lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Komparatistik an der LMU München und in St. Petersburg sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Severin schreibt Lyrik und Prosa und übersetzt Lyrik aus dem Russischen. Er veröffentlichte in Zeitschriften, Anthologien und Künstlerbüchern. Zuletzt erschienen im Verlagshaus Berlin „museum der aussterbenden mittelschicht“ und, in Zusammenarbeit mit Lea Schneider, das E-Book „O0“. Er wurde zuletzt u. a. ausgezeichnet mit dem VG-Wort Neustart Kultur-Stipendium für die Arbeit an „museum der aussterbenden mittelschicht“ und mit dem Bode-Stipendium für Übersetzungen von Gedichten von Galina Rymbu.

Videos zum Monatsthema
Lesung Monatsgedicht und Schreibimpulse von und mit Tillmann Severin

Schreibe, um zu träumen.